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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Stunde sprechen wollte. Sein Bote hatte es dringend gemacht. Umso verwunderlicher, dass der Heilige Vater ihn nun warten ließ.
    Andererseits – Oldrich kannte das Tagesgeschäft des Papstes nur zu gut. Er wusste, mit wie vielen lästigen Besuchern er sich abgeben musste. Verzögerungen waren nicht ungewöhnlich.
    Er wanderte wieder zu den Fenstern, tief in Gedanken versunken, als ein Stich im Magen ihn zusammenzucken ließ. Ein Flammenstoß raste durch seine Gedärme, explodierte gleich darauf in seinem ganzen Oberkörper und legte sich von einem Herzschlag zum nächsten auf seine Lunge.
    Oldrich beugte sich nach vorn, beide Hände gegen den Bauch gepresst, als ihn die nächste Schmerzattacke wie ein Schwertstreich traf. Mit einem Aufschrei wurde er nach hinten geschleuderte. Er krachte rückwärts aufs Steißbein und wälzte sich keuchend auf die Seite.
    Sein Blick war mit einem Mal noch verschwommener als sonst. Das Licht zog sich an die Ränder seines Sichtfelds zurück, während im Zentrum seines Sehens ein schwarzes Schattenherz pulsierte, sich ausdehnte, immer größer und größer wurde. Sein Atem stockte, als er versuchte, gleichzeitig Luft zu holen und den Schmerz aus seinem Leib zu erbrechen.
    Konvulsionen schüttelten seinen Körper. Seine Beine streckten sich und zogen sich wieder zusammen. Seine Hände krallten sich um seine Kehle, als wollten sie das Fleisch aufreißen, um endlich Luft hineinzulassen.
    Noch einmal klärte sich sein Blick, weit genug, um zurück zum Tisch und dem funkelnden Weinkelch zu sehen. Doch falls dieser Sekunde so etwas wie Begreifen durch seinen Verstand jagte, so konnte sein Geist das Wissen nicht mehr verarbeiten.
    Der seltsame Duft im Wein. Die späte Einladung. Die lange .Verzögerung. Das Zittern des jungen Geistlichen.
    Am anderen Ende des Saals wurde die Tür zu den päpstlichen Gemächern geöffnet. Innozenz blieb im Rahmen stehen und betrachtete den sterbenden Kardinal ohne jede Regung.

Ein Gespräch unter Frauen
     
    Karmesin blieb ein Rätsel, auch nach all den Tagen auf See. Die Konkubine hielt sich von allen fern, mit Ausnahme von Jorinde, die ihre Stunden am liebsten mit der Römerin verbrachte. Wenn an Deck der Santa Magdalena Waffenübungen abgehalten wurden – und das war tagsüber fast immer der Fall, da der wenige Platz, der zwischen den Ruderbänken zur Verfügung stand, nur Raum für kleine Gruppen bot –, standen die beiden Frauen abseits auf dem Achterkastell und unterhielten sich. Keine von ihnen nahm je an den Übungen teil; zumindest was Karmesin anging, schien der Gedanke abwegig. Alle waren übereingekommen, nie einem flinkeren und zugleich kaltblütigeren Geschöpf begegnet zu sein: Die Art und Weise, wie sie dem Attentäter in Venedig die Kehle durchgeschnitten hatte, hatte selbst Berengaria angemessen beeindruckt. Für einen Augenblick hatte die Kriegerin ihre mürrische Maske abgelegt und sogar vergessen, lautstark Befehle in alle Richtungen zu brüllen, wie sie es sonst bei jeder Gelegenheit tat.
    Saga beobachtete Jorinde und Karmesin nicht ohne Neid und hatte das Gefühl, dass sie als Preis für ihr Leben womöglich eine Freundin verloren hatte. Das schmerzte doppelt, weil Jorinde die Einzige an Bord war, zu der sie Vertrauen gefasst hatte. Nach dem Mordanschlag hatte Saga einige Tage im Bett verbracht, zum einen, weil sie sich tatsächlich zu schwach fühlte und ihre aufgeschlitzte Wange wie Feuer brannte; zum anderen, weil Violante darauf bestanden hatte, dass sie sich den anderen Frauen an Bord nicht zeigte, ehe sie einen gestärkten und weitgehend geheilten Eindruck machte: »Auf allen Schiffen predigen die Priester, dass ein Wunder dich vor dem Mörder gerettet hat und dass es Gottes Wille ist, dass du mit frischer Kraft aus dieser Prüfung hervorgehst.«
    »So eine Scheiße.«
    »Die Mädchen glauben daran.«
    »Die Mädchen glauben jeden Mist, den man ihnen erzählt, solange der Satz nur mit einem Amen endet.«
    Nach einer Woche hatte Saga es nicht mehr ausgehalten und war an Deck gestiegen. Ein Raunen war durch die Reihen der Ruderer und Frauen gegangen, als sie ans Tageslicht trat. Ein Verband, der unter ihrem Kinn hindurchführte und oben auf dem Kopf verknotet war, hielt ein Kissen aus getrockneten Blättern, Kräuterpaste und irgendeiner stinkenden Substanz auf ihrer Wange. Die Wunde selbst war darunter nicht zu sehen, wohl aber die Schwellung, die bis zu ihrem linken Auge reichte und die Haut tiefdunkel färbte. An den

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