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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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genau, dass er die Beunruhigung des Jungen damit nur steigerte. Er hätte stundenlang dabei zusehen können, wie er sich vor ihm wand. Die Kunst war, ihn nicht wirklich zu bedrohen, und ihm doch das Gefühl eines Messers an seiner Kehle zu geben. Mit finsteren Drohungen um sich zu werfen war leicht, erst recht in Oldrichs Position. Doch darum ging es nicht. Anderen mit Freundlichkeit, mit Huld und Güte Angst einzujagen, das war eine Herausforderung. Oldrich meisterte sie wie kein anderer in Rom.
    »Lasst mich Euch zeigen, wie man es richtig macht.« Er presste den Krug sanft zurück auf die Tischplatte und löste die bleichen Finger des Priesters davon. Dann griff er selbst danach und füllte den Rest des Kelchs eigenhändig und mit quälender Langsamkeit; das Rinnsaal aus Wein hätte nicht schmaler sein können, ohne zu versiegen. Und während der Junge auf den Kelch starrte, mit zuckenden Wangenmuskeln und bebendem Adamsapfel, sah Oldrich nur ihn an und ergötzte sich an diesem köstlichen Schauspiel der Furcht.
    »Nun?«, fragte er, als er den Krug schließlich abstellte. Er hatte den Kelch bis zum Rand gefüllt, ohne ein einziges Mal hinzuschauen, und er hatte keinen Tropfen vergossen.
    Der junge Geistliche schluckte. »Ich danke Euch, Eminenz.«
    »Aber wofür dankt Ihr mir?«
    »Dass … dass Ihr mir gezeigt habt, wie man Wein einschenkt.«
    Oldrich unterdrückte ein Lachen. »Es war mir eine besondere Freude.«
    Der Junge nahm den Krug, verbeugte sich demütig und eilte überstürzt an kostbaren Wandteppichen und Fresken zur Tür des Saales.
    »Wartet«, sagte der Kardinal.
    Der Priester fuhr herum. Oldrich sah ihm an, dass der Junge eine weitere Bosheit erwartete, und er war versucht, ihm den Wunsch zu erfüllen. Dann aber fragte er nur: »Hat der Heilige Vater verlauten lassen, wie lange ich hier auf ihn warten soll?«
    »Nicht lange, das war alles, was er gesagt hat.«
    »Und Ihr wisst nicht zufällig, wie lange dieses nicht lange dauern kann?«
    »Eure Eminenz, es steht mir nicht zu –«
    »Nein«, unterbrach Oldrich ihn, »natürlich nicht.«
    Der Junge blieb stehen und blickte zu Boden, ehe der Kardinal ihm einen Wink gab. »Ihr dürft Euch entfernen.«
    »Danke, Eminenz.« Und schneller als Oldrich ihm mit seinen getrübten Augen folgen konnte, war er aus dem Saal geflohen und schloss die Tür hinter sich.
    Der Kardinal nahm den Kelch auf, drehte ihn in der Hand und führte ihn an die Lippen. Während er einen tiefen Zug trank, atmete er den Duft des Weines ein. Er kam wohl eben erst aus dem Fass, das Aroma war noch scharf und streng. Trotzdem nahm er einen zweiten Schluck, hielt ihn einen Moment lang auf der Zunge und schluckte ihn hinunter.
    Mit einem leisen Seufzen stellte er den Krug ab und erhob sich. Der Saal vor Innozenz’ Gemächern befand sich im oberen Stockwerk des Papstpalastes und hatte zwei hohe Fenster. Die Läden waren geschlossen, es war bereits spät am Abend. Dunkelheit breitete sich über die Dächer Roms, und sogar das Gejammer und Geflenne der Bittsteller draußen vor dem Portal war verstummt. Als Oldrich eingetroffen war, hatten die Wachen gerade die letzten Bettler vertrieben.
    Langsam schritt er im Saal auf und ab. Er hatte den ganzen Tag mit lästigen Amtsgeschäften verbracht, vornehmlich um sich abzulenken. In Wahrheit wartete er gespannt auf eine Nachricht des Bethaniers. Musste er nicht längst zurück in der Stadt sein? Überhaupt hatten Oldrich in den vergangenen Tagen erstaunlich wenige Botschaften von außerhalb Roms erreicht. Nicht ein einziges Wort über den Kreuzzug der Jungfrauen. Dabei zweifelte er nicht, dass die Magdalena mittlerweile tot war. Aber konnte Violante von Lerch so größenwahnsinnig sein, den Heerzug ohne ihre Predigerin ins Heilige Land zu führen?
    Zuzutrauen war es ihr. Oldrich erinnerte sich gut an sie. Er war ihr zweimal begegnet. Jahre lag das zurück, und so vieles war seither geschehen. Aber ihr Gesicht hatte er nicht vergessen. Auch nicht den Schmiss von einem Schnabelhieb unter ihrem Auge. Gahmuret von Lerch hatte eine Falkenjagd für die Gäste seiner Gemahlin veranstaltet, als der Vogel sie attackiert hatte. Es war keine schlimme Wunde gewesen, nur eine blutige Kerbe, und als sie sich wieder begegnet waren, einige Jahre später, war nur noch eine winzige Narbe geblieben.
    Oldrich trat zurück an den Tisch und nahm einen weiteren tiefen Zug vom Wein. Möglicherweise war Violantes Kreuzzug der Grund, weshalb Innozenz ihn zu so später

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