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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und tue.« Saga blickte sich auf dem Deck um, konnte Violante aber nirgends entdecken. Sie hatte in all den Tagen nicht mehr daran gedacht, aber jetzt vermisste sie plötzlich noch jemanden. »Was ist eigentlich aus dem kleinen Mädchen geworden, das kurz vor dem Attentat am Ufer war?«
    »Am Abend des Anschlags hat sie geredet wie ein Wasserfall. Sie sagte, dass sie in den Sümpfen aufgewachsen ist – ihrem Dialekt nach würde ich sagen, sie meinte die Sümpfe am Ufer des Po. Darum haben die Wächterinnen sie nicht verstanden, als sie mit dem Messer aufgetaucht ist. Der Attentäter hat das vorausgesehen. Während das Mädchen unwissentlich die Mannschaft abgelenkt hat, hatte er genug Zeit, um aufs Schiff zu gelangen.«
    »Das hat sie dir erzählt?«
    Karmesin schüttelte den Kopf. »Sie hat viel geredet, aber das meiste hat keinen Sinn ergeben.« Sie war ziemlich durcheinander. Der Mann, der dich angegriffen hat, hat ihre ganze Familie umgebracht und sie mitgenommen.«
    »Er hat sie vor ihren Augen umgebracht«, ergänzte Jorinde angewidert.
    »Wo ist sie jetzt?«, fragte Saga.
    »Ich habe sie mit meinem Kutscher nach Rom geschickt. Er spricht ihren Dialekt, und er wird sie neben sich auf dem Kutschbock sitzen lassen. Er ist ein guter Mann. Ich kenne ihn seit vielen Jahren.«
    »Wohin bringt er sie?«
    »Ins Haus der Karmesin.«
    »Aber du bist die Karmesin.«
    »Nur eine Karmesin. Die heutige. Aber im Haus der Karmesin gibt es viele junge Mädchen, und eines wird irgendwann einmal meine Stelle einnehmen.«
    »Du hast die Kleine in ein Hurenhaus geschickt?«
    Karmesin funkelte sie an. »Es ist kein Hurenhaus! Es ist eine Schule. Eine, in der sie mehr lernen wird als hübsch auszusehen und Männern den Kopf zu verdrehen.«
    »Was geschieht mit denen, die nicht das … Glück haben, erwählt zu werden?«
    »Roms junge Edelleute kämpfen bis aufs Blut um die Gunst, eine von ihnen zur Frau zu nehmen. Glaub mir, die Kleine ist gut versorgt. Sie wird irgendwann einen großen Haushalt haben. Kinder, wenn sie will. Oder keine, falls nicht. Ganz sicher aber ein sorgenfreies Leben.«
    »Das Schmuckstück für einen reichen Gecken«, bemerkte Saga kühl.
    »Weit mehr als das. Die Schülerinnen im Haus der Karmesin lernen schnell, jeden Mann um ihren Finger zu wickeln. Sie wird tun und lassen können, was sie will. Welche Frau kann das von sich behaupten? Du etwa?« Die Konkubine lächelte wieder. »Aber es ehrt dich, dass du dir Gedanken um die kleine Maria machst, während du selbst –«
    »Während ich so aussehe?«
    »Ja.«
    »Glaub mir, ich denke den ganzen Tag kaum an etwas anderes als an mich.« Sie legte die Hände auf die Reling des Achterkastells und blickte über das Meer zu den anderen Galeeren hinüber. Es war ein imposanter Anblick, wie sie auf Spuren aus schäumender Gischt über die tiefblaue See zogen. Siebzehn gewaltige Schiffe, so groß wie kleine Burgen, jedes mit hunderten von Menschen beladen. An den Masten eines jeden flatterten sechs Flaggen. Die wichtigste war weiß mit einem roten Kreuz, das von einem Rand zum anderen reichte – das Zeichen für Pilger auf dem Weg ins Heilige Land. Die zweite trug das Zeichen Venedigs, den roten Löwen auf weißem Grund, unter dessen Vorderpfoten sich die See ausbreitete, während die Hinterbeine sich über Land erstreckten. Die dritte Fahne war die des Papstes, die vierte die des jeweiligen Schiffseigners; die fünfte vereinigte sein Wappen mit dem Venedigs. Die sechste zeigte abermals einen Löwen, diesmal in schwarz auf weißem Feld.
    Jorinde musterte mitfühlend Sagas Wunde. »Tut es noch sehr weh?«
    Es tat höllisch weh, auch jetzt, in diesem Augenblick, aber Saga wich ihr aus: »Es geht schon.« Es war ein Teufelskreis: Solange sie redete, hielt sie es vor Schmerzen kaum aus, aber sie hatte zumindest die Chance, auf andere Gedanken zu kommen. Wenn sie aber schwieg und allein blieb, ließ die eigentliche Pein nach, doch ihre Gedanken kreisten um nichts anderes und machten ihren Zustand noch unerträglicher.
    Mit einem Ruck wandte sie sich an Karmesin. »Wer hat ihn geschickt?«
    »Das fragst du mich?«
    »Violante ist überzeugt, dass es der Kaiser war. Er hat schon einmal versucht, sie ermorden zu lassen, in ihrer eigenen Burg. Violante und ihr Mann Gahmuret haben während des Bürgerkriegs Philipp von Schwaben unterstützt, deshalb ist sie Otto ein Dorn im Auge. Allerdings hat dieser Kreuzzug ihr Ansehen im ganzen Reich steigen lassen, und sie hat jetzt die

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