Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
war. Möglich, dass Otto und seine Berater diesen Ort von vorneherein als Hauptquartier auserkoren hatten. Das erklärte auch, warum nirgends Einwohner zu sehen waren – es gab keine mehr. Die Soldaten hatten sie davongejagt, vielleicht sogar umgebracht, um das Risiko eines Aufstandes so nahe beim Kaiser einzuschränken.
    »Das dürfte es sein«, sagte Zinder heiser, als sich vor ihnen der Marktplatz des Bergdorfes öffnete. Ein dreistöckiges Gebäude, das einzige mit Verzierungen und einem steinernen Wappen über dem Eingang, hob sich von den angrenzenden braunen Fassaden ab.
    Faun hatte Bauchschmerzen, und er fühlte sich seltsam schwer, so als könnte er keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, wenn sie endlich von diesem Pferd herunterkamen. Über allem schien der Schleier seines Verlusts zu liegen und machte die Umgebung farblos und trüb. Er sagte sich, dass das albern war, und im Geiste suchte er all die Argumente hervor, die er sich in den letzten Wochen wieder und wieder vor Augen geführt hatte. Sie war von hoher Geburt. Sie war gebildeter und womöglich auch klüger als er. Und, zum Teufel, ihm fielen sogar noch ein paar neue Gründe ein. Zum Beispiel, dass sie ihn nach Strich und Faden belogen hatte. Nicht einmal ihr Name war echt gewesen.
    Beatrix von Schwaben.
    Er kannte die Geschichte der Stauferprinzessin nur in ihren Grundzügen, ein paar Eckpfeiler ihrer Tragödie, die er in den vergangenen ein, zwei Jahren auf der Straße aufgeschnappt hatte, wenn die Rede auf den Kaiser und den ermordeten König gekommen war. Nichts davon passte zu dem Mädchen, das er kannte – und in das er sich verliebt hatte.
    Beatrix.
    Für ihn würde sie immer Tiessa bleiben.
    »Absitzen!«, rief Graf Hektor, und sogleich stiegen alle Soldaten von ihren Pferden ab. Zinder und Faun brauchten ein wenig länger, weil sie zu zweit im Sattel saßen.
    Tiessa wandte sich zu ihm um, schenkte ihm einen traurigen Blick, und für einen Moment sah es aus, als wollte sie zu ihm herüberkommen. Aber dann besann sie sich der Rolle, die sie hier zu spielen hatte, und blieb zwischen den beiden Rittern stehen.
    Nein, verbesserte er sich: Eine Rolle hatte sie bisher gespielt. Hier musste sie wieder sie selbst sein. Beatrix von Schwaben. Tochter des toten Königs Philipp. Jetzt die Verlobte seines Erzfeindes Otto von Braunschweig.
    Die künftige Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches.
    »Willst du die ganze Geschichte hören?«, fragte Zinder später, als er und Faun allein in einer Kammer saßen. Ein mürrischer Diener hatte sie hergeführt, gleich nach ihrer Ankunft.
    »Nein.«
    »Natürlich willst du. Außerdem habe ich es satt, dir dabei zuzusehen, wie du Trübsal bläst.«
    Faun gab keine Antwort, starrte nur stumm auf die Tür aus Zedernholz mit ihren rostigen Beschlägen. Sie befanden sich im hinteren Teil des Rathauses, das jetzt dem Kaiser und seinem Gefolge als Unterkunft diente. Wenn sie aus dem kleinen Fenster sahen, blickten sie keine zwei Armlängen entfernt auf eine Hauswand aus Bruchstein. An ihrem Fuß befand sich eine enge Treppengasse, deren Stufen weiter oben in den Marktplatz mündeten, am unteren Ende aber um eine Ecke und weiß Gott wohin führten. Es roch nach gekochtem Eintopf, vermutlich aus irgendeiner Soldatenküche, die in den angrenzenden Häusern untergebracht war.
    »Also?«, fragte Zinder. Er saß mit angezogenen Knien auf seinem Lager, die staubigen Stiefel achtlos auf der Wolldecke, den Rücken gegen die kühle Mauer gelehnt. Hier drinnen war wenig von der Hitze zu spüren, die jetzt, am frühen Nachmittag, alle Bewegungen in den Gassen verlangsamte wie am Grunde eines Sees.
    Faun legte sich seufzend auf den Rücken und veschränkte die Hände unterm Hinterkopf. Es gab noch ein drittes unbenutztes Bett in der Kammer; sie hatten ihre Bündel darauf geworfen. Obenauf lag Zinders Waffengurt mitsamt dem vermaledeiten Kettenschwert in seiner Scheide, das Faun so nützlich vorkam wie ein Blumenstängel.
    »Weißt du, dass sie und ihre beiden Schwestern die Erbinnen von dreihundertfünfzig Burgen sind?«, fragte der Söldner. »Dreihundertfünfzig! Keine schlechte Par tie.«
    »Ja«, entgegnete Faun düster, »das muss sich auch der Kaiser gedacht haben.«
    »Oh, er hatte andere Gründe, sie zu seiner Verlobten zu machen.«
    »Zu machen! Sie will ihn nicht einmal! Man hat sie dazu gezwungen, sich auf diese Verlobung einzulassen.«
    »Was nichts daran ändert, dass sie nach seiner Rückkehr seine Kaiserin werden

Weitere Kostenlose Bücher