Herrin der Lüge
drehte sich aber auf dem Gang ein letztes Mal um. »Schon bald wird an Euren Händen mehr Blut kleben, als ein einzelner Mensch ertragen kann. Dann, und erst dann, Violante, werdet Ihr Gahmuret wahrlich dorthin folgen, wo er längst angekommen ist.«
Tiessas Schicksal
Das Bergdorf, in dem das kaiserliche Heer sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, lag auf einem schroffen, schwer zugänglichen Felsen. Die Luft flirrte vor Hitze, als Faun, Tiessa und Zinder gemeinsam mit dem Trupp der beiden Ritter einen engen Serpentinenweg hinaufritten. Schwarze Vögel kreisten um die turmhohen Mauern. Fenster gab es nur vereinzelt, und die wenigen waren winzig, kaum größer als Schießscharten für Armbrustschützen. Das Meer lag auf der anderen Seite der Felsen und war von hier aus weder zu sehen noch zu hören. Der Berg wehrte den Seewind ab, und die unerträgliche Sommerhitze Süditaliens hielt sie jetzt fest im Griff.
Der Kaiser ist mein Verlobter.
Faun kam sich dumm vor, verletzt, enttäuscht. Vor allem aber hereingelegt. Warum hatte Tiessa ihm nicht viel früher die Wahrheit gesagt, statt zuzulassen, dass er sich in sie verliebte? Waren ihre Gefühle für ihn echt gewesen? Hatte sie ihn nur ausgenutzt? Frage türmte sich auf Frage, ohne dass er irgendeine Antwort fand.
Sein Blick war starr auf Tiessas Rücken gerichtet. Sie saß allein im Sattel eines Pferdes, weiter vorne, zwischen den beiden Rittern, während er und Zinder sich ein Tier teilen mussten. Die beiden Soldaten, die ihnen ihre Rösser hatten abtreten müssen, waren am Rand des Ruinenfelds zurückgeblieben und sollten später von einer anderen Patrouille aufgelesen werden. Während des gesamten Ritts hatten Faun und Tiessa kein Wort wechseln können. Selbst Zinder blieb einsilbig. Hin und wieder sagte er etwas, das Faun beruhigen sollte, aber er spürte wohl, dass er keinen Erfolg damit hatte, und ließ es schließlich bleiben. Als sie die Serpentinen zum Bergdorf des Kaisers hinaufritten, hatten sie den halben Vormittag lang nicht mehr miteinander gesprochen.
Die Häuser der Ortschaft waren bis an den Rand der Felswand gebaut. Sie lehnten sich kühn über den Abgrund, das Mauerwerk wie verschmolzen mit dem weißgelben Gestein. Lehmgebrannte Ziegel bedeckten die Dächer. Von weitem hätte man das Dorf für eine verschachtelte Burg halten können, und erst im Näherkommen war offenbar geworden, dass es sich keineswegs um eine Festung handelte. Fensterlose Wohntürme überragten das Gewirr der Dächer, auf manchen standen kaiserliche Wachtposten und spähten hinab in die weite Landschaft am Fuß der Felsen und über das riesige Heerlager, das sich dort unten über verdorrte Äcker und ausgetrocknete Flussbetten erstreckte. Die Mittagshitze war feucht und schwer, selbst das Atmen war eine Anstrengung. Die Aussicht auf Schatten und kühles Wasser war verlockend, aber Faun ließ sich nicht einmal davon aufmuntern. Tiessa während des ganzen Ritts vor sich zu sehen und doch nicht offen mit ihr sprechen zu können quälte ihn mehr als die Hitze, mehr als sein Durst.
Durch einen Torbogen ritten sie in die Stadt, während ihnen die Blicke der schwer bewaffneten Posten folgten. Hunde sprangen kläffend um die Hufe der Pferde. Adalbert von Herringen und Graf Hektor hatten einen Boten ausgesandt, der ihnen im Galopp vorausgeritten war und den Kaiser über die Ankunft seiner Verlobten in Kenntnis setzen sollte. Faun hatte erwartet, dass sie von einem Spalier aus Rittern erwartet würden, irgendeiner eilig aufgestellten Ehrengarde für Tiessa. Doch am Tor und in den verwinkelten Sträßchen blieb alles ruhig. Niemand machte Aufheben um das Eintreffen der Stauferprinzessin.
Zu beiden Seiten des Hauptweges zweigten schmale Gassen ab, viele als Treppen mit breiten Stufen und blank gescheuerten Steinkanten. Die Reiterkolonne bewegte sich bereits eine Weile durch die tiefen, schattigen Mauerschluchten des Dorfes, ehe Faun auffiel, dass nirgends Bewohner zu sehen waren; keine verängstigten oder misstrauischen Gesichter zeigten sich in den schmalen Fensterlöchern. Nur Soldaten patrouillierten durch die Gassen, bewachten Gebäude oder saßen schwitzend rund um die Brunnen im Zentrum kleiner Plätze. Über einigen Fenstern und Türen verliefen Rußspuren an den Fassaden nach oben, aber sie blieben die Ausnahme; offenbar war das Heer des Kaisers bei der Einnahme des Ortes behutsamer mit den Bauten vorgegangen, als es sonst während eines Kriegszuges fern der Heimat üblich
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