Herrin der Lüge
Godvere und Angelotti harrten ganz in der Nähe aus. Feuer brannten auf den Trümmerwällen und Felskanten, für Brandpfeile, aber auch um in der anbrechenden Dämmerung und später in der Nacht nicht über die eigenen Leute zu stolpern.
Die feindliche Flotte hatte begonnen, ihre Männer in Ruderbooten an Land zu bringen. Eine Flut aus dunklen Ovalen glitt auf die Küste zu, spie ihre menschliche Fracht auf den Strand und kehrte zurück, um weitere Männer an Bord zu nehmen.
»Wie viele können das sein?«, fragte Saga.
»Weniger als wir, schätze ich.« Karmesin kniff die Augen zusammen, um im Schein des letzten Sonnenlichts über dem Horizont Einzelheiten auszumachen. »Sie haben drei Schiffe mehr, aber unsere sind größer, und ganz sicher sind ihre nicht derart voll gepfercht mit Menschen. Sie müssen Platz für ihre Beute einkalkuliert haben.«
»Für Sklavinnen«, sagte Jorinde mit belegter Stimme.
Karmesin nickte.
Saga trat ein paar Schritte zurück und ließ ihren Blick über das Plateau schweifen. Auch tiefer im Inneren, zwischen den Grundmauern, geborstenen Säulen und gezahnten Trümmern brannten Feuer. Vom Ufer aus musste der Zwillingsgipfel in diffusem Flammenschein erglühen. Überall saßen Mädchen, Kriegerinnen, Ruderknechte und Seeleute in Gruppen beieinander. Hatte Violante noch vor nicht allzu langer Zeit befürchtet, dass es zu Übergriffen und Vergewaltigungen kommen könnte, wenn man Frauen und Männer der Flotte nicht streng voneinander trennte, so bot sich jetzt ein bizarres Bild des Friedens. Zwar hatten sich Paare zusammengefunden, aber sie saßen einfach nur eng aneinander geschmiegt da und warteten angespannt auf das, was die nächsten Stunden und Tage bringen mochten. Nirgends Aufruhr, nirgends erhobene Stimmen. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Saga und bekam eine Gänsehaut.
Die Kreuzfahrerinnen trugen die Ausrüstung, die bei ihrer Ankunft in Venedig schon in den Galeeren verstaut gewesen war, bezahlt mit Mailänder Gold, gefertigt in den besten Rüstungs- und Waffenschmieden Norditaliens. Die meisten hatten wattierte Waffenröcke mit Eisenbeschlägen angelegt, einige verstärkte Lederrüstungen. Ein gewaltiges Kontingent an ledernen Kopfhauben war verteilt worden, manche hatten Schalenhelme mit T-förmigen Augenschlitzen ergattern können. Auch fehlte es nicht an Schwertern und Armbrüsten, leichten Äxten, sogar Streitkolben, die nur die kräftigsten unter den jungen Frauen heben konnten.
Dies also war ihre Armee. Sie hatte die Verantwortung übernommen für diese Mädchen, die im Namen der Magdalena ihre Heimat verlassen und sich auf diesen wahnwitzigen Kreuzzug begeben hatten. Die Vorstellung, dass alles in einem furchtbaren Blutvergießen auf dieser namenlosen Insel im Nirgendwo enden könnte, in Sklaverei, Vergewaltigung und Tod, ließ ihre Knie weich werden. Aber sie hatte sich rasch wieder im Griff. Wenn sie eines während der vergangenen Wochen gelernt hatte, dann keine Schwäche zu zeigen. Sie hatte einmal gegen diesen Vorsatz verstoßen, unten im brennenden Dorf, und sie würde es kein zweites Mal so weit kommen lassen. Jetzt war es ihre Verantwortung, nicht mehr die des Lügengeists.
Jorinde sprach flüsternd aus, was die anderen längst sahen.
»Sie kommen.«
Sie kamen tatsächlich, aber es war keine Armee, die sich im letzten Licht der Dämmerung über den Felsbuckel des Zwillingsgipfels näherte. Es war eine Gruppe von zwanzig, vielleicht dreißig Männern. Eine Delegation.
Saga empfing sie auf der Brücke, begleitet von der Gräfin und Karmesin.
Berengaria hatte getobt, als Saga die Entscheidung getroffen hatte, die Piraten dort zu erwarten. Doch durch Sagas Adern floss plötzlich eine Kraft, die etwas mit Fatalismus, aber auch mit Unbeugsamkeit zu tun hatte. Ohne auf den Widerstand der Söldnerführerin zu achten, hatte sie angeordnet, dass Berengaria ihre besten Bogenschützinnen auf den steinernen Querstreben des Tors unmittelbar hinter ihnen postierte. Inzwischen hatte die zwanzigköpfige Leibgarde dort Stellung bezogen, angeführt von Godvere.
Als die Unterhändler sich der Brücke näherten, war es bereits dunkel. Fackeln brannten in regelmäßigen Abständen links und rechts am Brückengeländer, verkeilt in morschen Mörtelfugen. Auch jenseits des Übergangs, auf dem dunklen Umriss des benachbarten Felsbuckels, loderten ein halbes Dutzend Feuer.
Licht genug, um zu erkennen, wer die Delegation der Piraten anführte.
Unter Saga schien sich ein
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