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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Eine unheimliche Stille lag über dem Heer, das sich zwischen den Felsen verteilt hatte. Zelte, die erst im Heiligen Land hatten aufgeschlagen werden sollen, bildeten den Kern des Lagers. Die meisten Unterkünfte waren von Berengarias abtrünnigen Kriegerinnen bewohnt. Auch wenn sie als Anführerinnen nicht akzeptiert wurden, so schienen sie doch eine gewisse Machtposition innezuhaben. Sogar die Seeleute hatten Respekt vor den bis an die Zähne bewaffneten Frauen.
    Die Söldnerin, die als Unterhändlerin zur Festung heraufgekommen war, führte auch hier unten das Wort. Wie Saga mittlerweile erfahren hatte, war ihr Name Godvere. Sie war Fränkin, kaum jünger als Berengaria und trug ihr dunkelblondes Haar zu einem Zopf geflochten, den sie mit einem Holzspieß am Hinterkopf hochsteckte. Ihr lederner Waffenrock war mit Eisenplatten besetzt. Bei dieser Hitze musste es eine Qual sein, ihn zu tragen.
    Über der Inselküste hing noch immer der Rauch der niedergebrannten Häuser, viel dichter, als sie das auf dem Berg hatten wahrnehmen können. Nicht einmal das tagelange Braten und Räuchern hatte den Gestank vertreiben können. Die Ruinen des Dorfes befanden sich ein gutes Stück weiter östlich. Seine schwarzen Mauern wirkten vor den weißen Felsen wie eine verkrustete Wunde.
     
    Die letzten zweihundert Schritte bis zum Zentrum des Lagers waren erfüllt von neuen Eindrücken. Saga hatte noch nie so viele Feuerstellen auf so engem Raum gesehen. Wo sie auch hinsah, waren Häute und Felle zum Trocknen aufgespannt. Man hatte Fässer von den Schiffen herbeigeschafft und mit gebratenem Fleisch gefüllt.
    Die Wortführerin der Marodeure schritt an Sagas Seite auf eines der großen Zelte zu. Es war in Mailand gefertigt worden und sah inmitten des chaotischen Heerlagers auf bizarre Weise reinlich aus. Davor ballte sich die Menge der Mädchen und Seeleute noch dichter zusammen. Männer und Frauen standen wie selbstverständlich beieinander; nach dem Blutbad im Dorf waren wohl noch weitere Regeln gebrochen worden.
    Das unheimliche Schweigen folgte ihnen, bis sie das Zelt betraten. Violante machte erneut den Versuch, über Sagas Kopf hinweg zu verhandeln, doch Godvere und die drei anderen Wortführer der Meuterer – darunter auch ein venezianischer Kapitän – schnitten ihr bald das Wort ab. Ungeduldig wandten sie sich an Saga.
    »Werdet Ihr uns führen, Magdalena?«, fragte Godvere. »Habe ich eine Wahl?«
    »Ich habe Euch eine ungehinderte Rückkehr auf den Berg zugesagt, und ich werde mein Wort halten.«
    Berengaria stieß ein abfälliges Grunzen aus. »Weil dich die Mädchen dort draußen zerfleischen würden, falls du der Magdalena auch nur ein Haar krümmst.«
    Godveres Augen blitzten. »Wir könnten ausprobieren, ob sie der Tod einer alternden Söldnerführerin ebenso bekümmert.«
    Berengaria wollte auffahren, doch Violante hielt sie zurück. »Nicht.«
    Einen Augenblick lang hingen so viel Zorn und Kampfeslust in der Luft, dass keiner einen Laut von sich gab. Eine einzige falsche Bewegung, ein unüberlegtes Wort, hätte die Verhandlungen in einem Fiasko enden lassen.
    Dass Saga sich trotz allem einigermaßen sicher fühlte, lag vor allem an der Nähe Karmesins. Die Konkubine saß zu ihrer Rechten. Ihren Blicken schien keine noch so unauffällige Regung zu entgehen.
    »Nun?«, fragte Godvere, nachdem sich die Anspannung ein wenig gelöst hatte.
    Saga war noch immer geschwächt. Viel zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Die Mädchen dort draußen glaubten immer nur an das, was ihnen gerade zupass kam. Bereitwillig waren sie der Botschaft der Magdalena aus dem Elend ihrer Dörfer gefolgt, über das Gebirge und hinaus aufs Meer. Und nun sollte Saga nach dem Massaker an der Inselbevölkerung erneut die Heilsbringerin für sie spielen? Ohne die Hilfe des Lügengeists? Wie paradox, dass die Mädchen ausgerechnet jetzt, nach Pater Lucas Exorzismus, wieder an sie glauben wollten. Absurd auch, dass es so etwas wie glauben wollen überhaupt gab. Saga wäre von so viel Opportunismus angewidert gewesen, wäre sie nicht selbst gerade auf dem besten Wege gewesen, nach dem einzigen Strohhalm zu greifen, der sie, Jorinde und die anderen lebend von dieser Insel herunterbringen konnte. War sie also im Grunde gar nicht anders als die Mädchen, die sich draußen vor dem Zelt drängten?
    Aber es gab noch ein ganz anderes Problem. Sie war keine geborene Anführerin wie Violante oder Berengaria. Schon gar keine Heerführerin.
    Sie war ein

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