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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und wagte gar nicht, sich umzuschauen und in den Gesichtern der Ruderer auf den Wällen zu lesen. Sie hatte Angst davor, was sie dort sehen könnte.
    »Fürchtest du deine eigenen Leute, kleine Magdalena?«, höhnte Achard lautstark, und da wusste Saga, dass es ein Fehler gewesen war, ihn hier oben zu empfangen. Sie hätten dieses Gespräch fernab der anderen führen müssen. Vor allem nicht in Hörweite der dreitausend Seeleute, die zweifellos schon länger mit dem Gedanken haderten, ob ihre miserable Bezahlung und das Schicksal der Frauen es wert waren, dafür ihr Leben zu lassen.
    »Was führt Euch überhaupt her, Achard von Rialt?«, fragte Saga. »Euch persönlich, meine ich.«
    Der Ritter warf einen Seitenblick auf Qwara, der keine Miene verzog. Sein Blick ruhte starr auf den Frauen. Vor allem Karmesin ließ er nicht aus den Augen, vielleicht wegen ihrer Schönheit, vielleicht auch, weil er in ihr auf Anhieb die gefährlichste Gegnerin erkannt hatte.
    »Ihr seid doch nicht freiwillig hier«, stieß Saga nach. »Ihr hattet es bequem genug in Eurer Räuberhöhle auf Hoch Rialt. Tausend Sklavinnen sind mehr, als ihr handhaben könnt, Achard. Was also treibt Euch her?«
    »Schicksalhafte Umstände«, entgegnete der Ritter vage.
    »Jorinde«, flüsterte Karmesin.
    Saga sprach leise nach hinten. »Aber er war froh, sie los zu sein.«
    »Frag ihn nach seinem Sohn«, verlangte Karmesin.
    »Warum nach –«
    »Frag ihn!«
    Saga schluckte einen Kloß hinunter, dann rief sie zu Achard hinüber: »Wie geht es Eurem Sohn? Dem kleinen Achim von Rialt?«
    Täuschte sie sich, oder erklang hinter ihr am Tor ein Keuchen? Jorinde.
    »Ein Unglück zwingt mich dazu, mein liebreizendes Weib zurück nach Hoch Rialt zu führen«, sagte Achard nach einem Augenblick unsicheren Schweigens.
    »Dieses Schwein«, fauchte Violante leise.
    Saga begriff nur allmählich. Violante hatte die Situation viel schneller erfasst – als Adelige kannte sie sich aus mit den Erbschaftsdünkeln der Hochgestellten. Auch Karmesin hatte lange genug im Herzen allen Intrigantentums gelebt, um sofort die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und jetzt erkannte auch Saga die Wahrheit. Sie fürchtete, dass es Jorinde in der Menge der Zuschauer genauso erging.
    Qwara stand vollkommen reglos. Weiter hinten bewegte sich unruhig das Dutzend weiterer Piraten. Vom Meer strich ein scharfer Wind die Felsen herauf und trug den Klang ferner Stimmen heran. Da waren noch mehr Männer auf dem Berg. Wahrscheinlich verteilten sie sich gerade über die zerklüfteten Hänge.
    »Was ist geschehen?«, fragte Saga den Ritter.
    »Fremde sind nach Hoch Rialt gekommen«, sagte Achard, und für einen Moment blitzte tatsächlich so etwas wie Schmerz hinter seiner Maske aus Spott und Überheblichkeit. »Ein Gauklerpaar. Und Ritter. Sie haben mir meinen Sohn genommen … Achim ist tot.«
    Gaukler? Saga blinzelte verwirrt. Es gab zigtausende Gaukler im Reich. Sicher nur ein Zufall. Und dennoch … Etwas in ihr krampfte sich zusammen, und zugleich spürte sie einen Schub neuer, unbändiger Kraft.
    Hinter ihr ertönte ein Schrei. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihn ausgestoßen hatte. Ihm folgte ein Moment entsetzter Stille, der nur vom flatterigen Knistern der Fackeln untermalt wurde.
    Jorinde stand in ihrem wehenden weißen Kleid oben auf dem Felsentor, inmitten weiterer Frauen, die meisten mit Bogen bewaffnet. Im Fackelschein und unter dem wirbelnden Stoff war die Wölbung ihres Leibes kaum zu erkennen.
    Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. »Du lügst!«, brüllte sie zu Achard hinab. »Du verleugnest sogar das Leben deines eigenen Sohnes!«
    Eine tiefe Falte erschien auf Qwaras Stirn, aber noch schritt er nicht ein. Mit Achards Ruhe war es vorbei, obgleich er sein Möglichstes tat, nach außen hin nichts von seinen wahren Gefühlen preiszugeben.
    »Komm zurück nach Hoch Rialt«, rief er zu Jorinde hinauf. »Wir können weitere Kinder haben, so viele du willst. Schenk mir einen zweiten Sohn, Jorinde. Dies alles hier kann bald schon vergessen sein.«
    »Achim ist nicht tot!«, rief sie.
    Gaukler, hallte es in Sagas Gedanken nach. Gaukler und Ritter. Unmöglich.
    »Er ist jetzt bei Gott«, entgegnete Achard.
    »Nein!«
    »Komm zurück zu mir.« Ein Befehl, erst recht aus dem Munde Achards von Rialt, klang für gewöhnlich ganz anders, dachte Saga verwundert.
    Etwas veränderte sich. Die Atmosphäre schien von einem Atemzug zum nächsten mit etwas aufgeladen, zu knistern und

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