Herrin der Lüge
von allen Seiten auf die Brücke einzurücken wie unsichtbare Wesenheiten, die sich tiefer über die Häupter der Menschen beugten. Wesen, die schon vor Äonen über diese Inseln gewandelt und heute halb vergessen waren. Saga erinnerte sich an ein ganz ähnliches Gefühl in den Felsen der Via Mala, als die Erde gebebt und die Mädchen am Ende des Zuges verschüttet hatte.
Es war, als zögen sie innerhalb eines Augenblicks das Interesse von Mächten auf sich, denen sie noch Sekunden zuvor völlig gleichgültig gewesen waren. Vielleicht täuschte Saga sich, und sie waren schon die ganze Zeit über da gewesen. Oder aber sie bildete sich das alles nur ein. Doch als sie in die Gesichter der anderen blickte, las sie auch in ihnen eine Spur von Verwirrung und Verunsicherung, die eben noch nicht da gewesen war. Selbst Qwaras schwarze Brauen rückten zusammen, und sein gerade noch so starrer Blick wanderte von einer zur anderen, dann wieder hinauf zu der jungen Frau mit dem wirbelnden weißblonden Haar auf dem Tor.
Seine Augen weiteten sich.
Sagas Blick raste zu Jorinde. Karmesin stieß einen Ruf aus, und irgendwo brüllte auch Berengaria.
Jorinde hielt einen gespannten Bogen in Händen. Wem sie ihn entrissen oder, schlimmer, wer ihn ihr gegeben hatte, war nicht zu erkennen. Es spielte auch keine Rolle mehr.
Der Pfeil deutete hinab zur Brücke.
Auf Achard.
»Sag mir, dass du gelogen hast!«, rief Jorinde.
»Ich –« Achard warf die Arme in die Höhe. »Jesus Christus! Leg dieses Ding weg!«
»Du hast ihn getötet!«, rief Jorinde.
»Verdammt, nein!«, schrie Achard, ebenso besorgt wie erzürnt. »Er war mein Sohn!«.
»Und es war deine Pflicht, ihn zu beschützen!«
Berengaria drängte sich aus dem Trupp der Leibgarde hinter den drei Verhandlungsführerinnen weiter vor auf die Brücke, drehte sich um und sah zu Jorinde oben auf dem Felsentor hinauf. »Tu das nicht!«, brüllte sie. »Haltet sie zurück!« Der Befehl war an die anderen Frauen gerichtet, die sich dort oben drängten. Sie standen so eng beieinander, dass ein Tumult jene am Rand unweigerlich in die Tiefe drängen musste.
Qwara rief etwas in seiner Sprache. Die Piraten, die ihn und Achard auf den Gipfel begleitet hatten, schoben sich als waffenstarrende Masse von hinten näher heran. Achard, dem wohl endgültig klar geworden war, wie schutzlos er mitten auf der Brücke war, wollte zurückweichen, aber Qwara packte ihn am Oberarm und zerrte ihn weiter nach vorn.
Er hat Mut, dachte Saga. Prinz oder nicht, Angst vor dem Tod hat er jedenfalls keine.
Berengaria brüllte weitere Befehle zum Tor hinauf, aber alle Versuche, Jorinde den Bogen zu entreißen waren halbherzig angesichts der Enge dort oben. Niemand wollte Gefahr laufen, dass man sich versehentlich gegenseitig in den Abgrund stieß.
Der Pfeil an der Sehne zitterte, das sah Saga selbst von der Brücke aus. Jorindes Gesicht glänzte unter einem Tränenschleier. Das Fackellicht tanzte über ihre Züge. Der Wind trieb das Kleid noch enger um ihren schwangeren Körper, und nun musste selbst der Letzte erkennen, in welchem Zustand sie sich befand.
»Jorinde, du bist mein Weib!«, brüllte Achard und versuchte zugleich, Qwaras stahlharten Griff abzuschütteln. »Versündige dich nicht!«
Saga hätte beinahe laut aufgelacht.
Der Piratenprinz achtete weder auf den Raubritter noch auf dessen Gemahlin mit dem Bogen. Das Drama dieser beiden berührte ihn nicht. Er zog Achard bis auf drei Schritt an Saga, Violante und Karmesin heran. Die Hand der Konkubine zuckte zum Dolch.
»Tausend Frauen!« Qwara bohrte seinen Blick wie Klingen in Sagas Augen. »Bei Sonnenaufgang. Sonst fällt dieser Berg, und keine von euch bleibt am Leben.«
»Lass mich los!«, zeterte Achard, der kaum kleiner war als der Afrikaner und doch beinahe schwächlich neben ihm wirkte. Qwara hatte wahrlich die Ausstrahlung eines Herrschers.
Der Wind wurde heftiger. Die unsichtbaren Wesenheiten beugten sich so tief herab, dass ihr Atem als Schwall eisiger Kälte über die Ruinen und die Brücke strich.
Beobachten sie mich?, durchzuckte es Saga. Schauen sie auf mich herab? Oder auf ihn?
Aber der Lügengeist war doch fort. Oder … nicht?
»Bei Sonnenaufgang!«, sagte Qwara noch einmal und wollte sich umdrehen.
Jorinde schluchzte auf und ließ die Bogensehne los.
Achard sah das Geschoss den Bruchteil eines Augenblicks vor Qwara. Mit einem wilden Schrei riss er sich von ihm los und ließ sich zur Seite fallen. Dabei zog er den
Weitere Kostenlose Bücher