Herrin der Lüge
Gauklermädchen. Sie spielte – auch eine Führerin, wenn es sein musste. Sie hatte lange genug vorgegeben, jemand zu sein, der sie nicht war. Und mit welchem Resultat! Aber ein paar Lage mehr oder weniger konnten es kaum schlimmer machen.
»Sag ihnen, dass ich einverstanden bin«, verkündete sie und hätte dabei gern ein wenig entschlossener geklungen. »Wenn die Piraten kommen, führe ich das Heer in die Schlacht.«
Das war verrückt. Aber sie hatte diesen Mädchen bereits das Himmelreich versprochen. Rettung vor Sklavenjägern nahm sich dagegen wie eine Kleinigkeit aus.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Züge. Alle sahen sie überrascht, ja erschüttert an. Nur Karmesins Mundwinkel zuckten verhalten.
»Dann ist es beschlossen«, sagte Godvere. Draußen gaben die Hornbläser auf den Felsen Alarm.
Die Galeeren wuchsen aus dem gleißenden Niemandsland zwischen Himmel und Wasser empor. Auf den ersten Blick geschah das täuschend langsam. Dann war auf einen Schlag der Horizont schwarz von Schiffen.
»Bringt die Vorräte hinauf in die Festung«, befahl Saga und fand den Klang ihrer Stimme viel zu dünn. Niemand würde sie ernst nehmen.
Aber dann gehorchten Tausende in Windeseile. Der Rückzug auf den Berg ging trotz der brütenden Hitze schneller vonstatten, als irgendwer für möglich gehalten hatte. Berengaria und Violante waren beeindruckt genug, um für eine Weile sogar ihre Verbitterung zu vergessen. Selbst Karmesin, die jetzt nicht mehr von Sagas Seite wich und dabei stets eine Hand an dem schmalen, stilettartigen Dolch an ihrem Gürtel hatte, murmelte ein paar anerkennende Worte.
Saga manövrierte in Wort und Tat durch das Geschehen, ohne auch nur einmal innezuhalten, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fürchtete, dass die Erkenntnis dessen, was sie hier gerade tat, sie wie ein Felsrutsch unter sich begraben würde. Besser nicht allzu genau nachdenken. Besser einfach etwas tun. Irgendetwas.
Die Sonne ging bereits unter, als das Kreuzfahrerheer endlich in der Ruine auf dem Berggipfel versammelt war.
Berengaria und einige der Söldnerinnen, die treu zu ihr gestanden hatten, machten sich sogleich daran, die Verteidigung der Festung zu organisieren. Die Mädchen und sogar der überwiegende Teil der Ruderknechte gehorchten ihnen, nachdem Saga auf eine Mauer gestiegen war – immer noch schwindelig, noch immer geschwächt – und eine kurze Rede gehalten hatte. Es war das erste Mal, dass sie zu den Mädchen sprach, ohne zu predigen. Sie stellte fest, dass es ihr schwerer fiel, da sie sich jetzt nicht mehr hinter den einstudierten Worten und Floskeln verstecken konnte. Und so sehr sie auch versuchte, eine überzeugende Heerführerin abzugeben, so aussichtslos erschien es ihr doch. Die Mädchen aber waren dankbar, dass sie zu ihnen sprach, und den meisten war die Erleichterung darüber anzusehen, dass die Dinge zumindest scheinbar wieder beim Alten waren. Fast als wären die Ereignisse im Dorf nichts weiter als ein böser Traum gewesen.
Die Piratenflotte ankerte ganz in der Nähe der Kreuzfahrergaleeren, die jetzt dunkel und verlassen dalagen. Saga fürchtete erst, die Angreifer könnten die Schiffe in Brand setzen. Doch als keine Boote von einer Flotte zur anderen übersetzten, atmete sie erleichtert auf. Qwara und seine Leute waren bereits nah genug gewesen, um zu erkennen, dass die Kreuzfahrerinnen und Seeleute den Berg hinauf in die Ruinen geflohen waren. Den venezianischen Schiffen würden sie sich später widmen. Und warum sie zerstören, wenn man mit ihnen die eigene Flotte verstärken oder sie meistbietend an Genuesen oder Sarazenen verkaufen konnte?
Gut anderthalbtausend Schritt lagen in gerade Linie zwischen dem Rand des Tempelplateaus und dem Ufer. Um den Berg über den geschlängelten Weg zwischen den Felsen zu erklimmen, musste man mehr als die doppelte Strecke zurücklegen. Selbst wenn die Piraten und Sklavenjäger das Wagnis eingingen, den Gipfel in breiter Front über tückische Geröllfelder und Felsspalten zu erklimmen, würden sie eine ganze Weile brauchen, ehe sie hier oben waren. Berengaria hatte mehrere hundert Bogenschützen an der Plateaukante und auf den Resten des Mauerwalls postiert. Sie war zuversichtlich, die ersten Angriffswellen abwehren zu können. Saga vertraute auf ihre Einschätzung und ließ zu, dass ein wenig von Berengarias Zuversicht auf sie selbst abfärbte.
Jetzt stand sie mit Karmesin zwischen den Tempelsäulen über dem Abgrund. Violante, Berengaria,
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