Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
gepackt.
    Als Sagas Sicht sich klärte und sie die weinende Jorinde an ihrer Schulter barg, sah sie Achard auf dem Rücken liegen. Karmesin stand über ihm, einen Fuß zwischen seinem Kinn und Kehlkopf verkantet, den langen Dolch in der Hand wie ein Pendel, das über seinen aufgerissenen Augen schwebte.
    Sein Mund öffnete und schloss sich, während sie langsam und immer fester zutrat. Ein stumpfes Röcheln kam über seine Lippen. Seine Beine begannen zu strampeln, scharrten im Schmutz. Seine Hände versuchten vergeblich, an ihren Beinen zu zerren.
    Als seine Bewegungen erschlafften, riss Karmesin den Fuß von seinem Hals, glitt schneller als ein Windstoß in die Hocke und zog den Dolch beinahe sanft über die Kehle des Raubritters. Im Schatten konnte Saga den Schnitt nur erahnen. Achards letztes Stöhnen kam nicht aus seinem Mund, sondern aus einem dunklen Strich auf seiner Luftröhre.
    Für einen Augenblick herrschte Stille. An den Hängen und am Tor tobten noch immer Kämpfe, aber in Sagas unmittelbarer Nähe nahm die Luft eine bedrückende Dichte an, wie Wachs, das die Grube ausfüllte und sie alle mit einem Gefühl gespenstischer Ruhe umfloss.
    Jorinde schluchzte leise, aber nicht einmal das drang zu ihr durch. Karmesin trat auf Saga zu. »Es ist vorüber«, sagte sie. Wie im Traum, müde und zäh und unsagbar langsam, führte Saga Jorinde die Stufen hinauf. Oben angekommen, erkannte sie, was geschehen war.
     
    Berengaria hatte noch nie im Leben aufgegeben, doch nun stand sie zum ersten Mal kurz davor. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, ihre Ausdauer am Ende. Aus den Augenwinkeln hatte sie gesehen, wie Saga und Karmesin das Tor hinabgeeilt waren, und das hatte ihr für einen Moment Zuversicht gegeben.
    Aber der Augenblick hielt nicht lange an. Qwaras Schläge hatten zwar an Schnelligkeit und Stärke verloren – das Pfeilende in seiner Schulter machte sich schließlich doch bemerkbar –, aber sie hatte selbst diesen letzten Versuchen, sie zu schlagen, kaum noch etwas entgegenzusetzen.
    Der Piratenprinz stieß ein triumphierendes Keuchen aus, als er Berengarias Schwert aus ihrer Hand prellte. Mit einem Mal tat ihr alles weh, vor allem ihr Oberkörper, ihr Bauch. Sie stolperte rückwärts über einen Leichnam, hielt sich mit einer Hand an der Steinbrüstung der Brücke fest und verharrte in einer seltsamen Position zwischen Stehen und Sitzen.
    Qwara stapfte auf sie zu, ebenso geschwächt wie sie. Unendlich langsam hob er das Schwert mit beiden Händen über seinen Kopf. Berengaria schloss in Erwartung ihres Todes die Augen.
    Gebrüll erhob sich aus der Menge der Piraten am Ende der Brücke. Kein Triumph über den vermeintlichen Sieg ihres Anführers, sondern alarmierende Schreie, plötzlich übertönt vom Klirren der Waffen und den heulenden Schlachtrufen der Kriegerinnen, die die Anhöhe von hinten stürmten und sich ohne Zögern auf ihre Gegner warfen.
    Mit einem Mal blickte niemand mehr auf die Brücke, Berengaria und Qwara waren vergessen. Die Piraten auf dem Gipfel kämpften ums nackte Überleben, als sich ein Ring aus Angreiferinnen um sie schloss. Einige wollten auf die Brücke zurückweichen, doch dort wurden sie von den Pfeilen der Kriegerinnen oben auf dem Tor empfangen. Bald bildete sich ein Wall aus toten und sterbenden Piraten und machte es für die Nachrückenden noch schwerer, hinaus auf die Brücke zu drängen.
    Qwara hielt das Krummschwert noch immer über dem Kopf, aber er drehte seinen Oberkörper ein Stück weit herum, um nach hinten zu blicken. Er blinzelte, halb blind von Blut und Schweiß in seinen Augen, und wischte sich mit dem Oberarm übers Gesicht. Silben in seiner Muttersprache kamen wie leises Stöhnen über seine aufgesprungenen Lippen.
    Als er sich wieder umwandte, war Berengaria auf dem Weg zum Tor. Sie wankte teils aufrecht, teils auf allen vieren über die Leichenberge. Die Kriegerinnen unterhalb des Portals wollten ihren Gefährtinnen auf der anderen Seite zu Hilfe kommen, aber Berengaria hob schwerfällig den Arm. Zwei ihrer Unterbefehlshaberinnen brüllten die Frauen an, noch abzuwarten.
    Qwara folgte Berengaria in einem Abstand von fünf, sechs Schritt. Mehrfach musste er sich mit seinem Schwert wie mit einem Stock abstützen, um nicht in die Knie zu brechen. Zielstrebig, aber ebenso kraftlos wie sie, folgte er Berengaria Richtung Felsentor.
    Eine junge Söldnerin, die sich nicht an der Plünderung des Dorfs beteiligt hatte, ignorierte den Befehl, stieß einen schrillen

Weitere Kostenlose Bücher