Herrin der Lüge
Platz!«, verlangte Saga. »Lasst mich durch!« Das war leichter gesagt als getan, aber irgendwie gelang es den Frauen, Saga zur Vorderkante des Felsblocks vorzulassen, ohne selbst von den Rändern in den Abgrund zu stürzen.
Der Anblick der beiden Kämpfenden unten auf der Brücke traf Saga nicht unvorbereitet. Es überraschte sie nicht, dass sich ausgerechnet Berengaria dem Piratenprinzen entgegenstellte. »Warum hilft ihr niemand?«, fragte sie die Bogenschützin neben sich.
»Sie will es nicht«, gab die Söldnerin mit stoischer Miene zurück. »Sie haben beide ihre Befehle gegeben.«
»Er wird sie töten.«
»Nein. Sie tötet ihn.« Auf welcher Seite diese Frau auch immer beim Blutbad im Dorf gestanden hatte – das eherne Vertrauen in ihre Anführerin hatte keinen Schaden genommen. Saga sah sich um und entdeckte auf den meisten Gesichtern eine ganz ähnliche Entschlossenheit. Als strahle etwas von Berengaria zu ihnen herauf, ein Abglanz ihrer Verwegenheit und Würde.
Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Glaubte die Söldnerin denn wirklich, die Piraten würden aufgeben, wenn sie ihren Anführer besiegte? Nein, erkannte Saga gleich darauf, und darum ging es auch gar nicht. Was dort unten geschah, folgte anderen Gesetzmäßigkeiten, die nichts mit Verpflichtung, Ehrgefühl oder der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Schlacht zu tun hatten.
Die Fackeln und Feuerbecken, die zu Beginn der Kämpfe auf der Brücke gebrannt hatten, waren im Verlauf des Gemetzels ausgetreten oder über die Brüstung geschleudert worden. Berengaria und Qwara kämpften in einem dämmerigen Halbdunkel, beschienen vom Mond und den Gestirnen am klaren Himmel und ein paar vereinzelten Fackeln, die irgendwer aus der Menge an beiden Enden des Überwegs auf die Brücke geworfen hatte. Sie spendeten genug Helligkeit, um zu erkennen, dass die Brücke kniehoch mit Leichen bedeckt war. Es war nahezu unmöglich, einen festen Stand zu finden, und so war das Duell dort unten eine bizarre Abfolge von wütenden Hieben, schlitterndem Gestolper, Stürzen und zornigem Gebrüll.
Berengaria war für eine Frau ungeheuer groß und breitschultrig, aber Qwara überragte sie fast um Haupteslänge. Berengaria konnte seinen furchtbaren Hieben standhalten, obgleich sie mehrfach fast das Gleichgewicht verlor. Zeit für eigene Attacken blieb ihr kaum, doch wenn sie es einmal schaffte, einen Schlag oder Stich gegen ihn zu führen, kam sie seinem Gesicht und seiner Kehle mehrfach gefährlich nah.
Gerade wich Qwara zwei Schritte zurück und ließ seiner Gegnerin einen Augenblick des Atemholens. Berengaria setzte nicht nach, sondern suchte sich zwischen den Leibern am Boden einen stabilen Stand, um seine nächste Attacke zu erwarten. Qwara machte den Versuch, sie zu umkreisen, kam aber nicht weit, weil auch ihm der Untergrund zu schaffen machte.
Neben Saga hob eine Kriegerin einen Pfeil an die Bogensehne, aber Saga hielt sie zurück. »Warte noch.«
»Er wird sie umbringen!«
»Sie tut das nur, um Zeit für unsere Leute zu gewinnen.«
Die Kriegerin folgte ihrem Blick den Hang hinunter, wo in der Finsternis kaum etwas auszumachen war. Der Schein der brennenden Piratenflotte geisterte über Spalten und Felsbuckel. Man konnte erkennen, dass an der Bergflanke erbittert gekämpft wurde, ein diffuses Gewusel in der Dunkelheit. Der Wind trug Lärm herauf, der aber nur selten das Gebrüll der Menschenmengen an beiden Enden der Brücke übertönte.
Saga wandte sich um und drängte sich an die hintere Kante des Tors. Von dort aus hatte sie einen Überblick über das gesamte Plateau. Rundum wurde kaum noch gekämpft. An der Nordseite gelang es nur noch vereinzelten Piraten, den Rand der Gipfelfläche zu erklimmen, aber keiner hatte danach noch die Kraft, dem Ansturm von drei oder vier Gegnerinnen gleichzeitig standzuhalten. Auch im Osten, am weitesten von Sagas erhöhtem Standpunkt entfernt, schienen die Gefechte beendet zu sein; dort waren die meisten Angreifer in Richtung Küste zurückgewichen, um sich die Galeeren der Frauenflotte zu sichern.
Saga fiel es schwer, die Zahl der Gefallenen abzuschätzen, aber sie fürchtete, dass die Kriegerinnen, die von unten den Berg heraufstürmten, es keineswegs leicht hatten. Nach kurzem Zögern brüllte sie ihre Befehle in die Tiefe, wo sie von Berengarias Söldnerinnen aufgegriffen und weitergegeben wurden. Bald schwangen sich die ersten Kämpferinnen über die Kanten und folgten den Piraten den Hang hinab, um ihren
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