Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
gefallen.
    Von Margat aus brachte sie ein Schiff nach Zypern. Im Hafen von Limassol ging Karmesin von Bord, um in Erfahrung zu bringen, wie es Jorinde in der Fremde erging; sie war seit zwei Wochen auf der Insel. Die Zeit war knapp, die Galeere sollte bald weitersegeln, und kurz bevor sie auslief, brachte ein Bote eine Pergamentrolle. Tiessa nahm sie entgegen und las den Zwillingen vor, was darauf in brauner Tinte geschrieben stand.
    Mir liegt es nicht, Abschied zu nehmen, schrieb Karmesin. Vielleicht habt ihr euch das schon denken können. Ich werde eine Weile hier bleiben. Jorinde wird bald ihr Kind zur Welt bringen. Möglicherweise kehre ich danach zurück nach Rom. Vielleicht auch nicht. Man wird mich suchen, wenn ich es nicht tue, denn der Karmesin obliegt es nicht, eigene Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen. Aber das bekümmert mich wenig. Ich habe Leben genommen, und nun werde ich dabei sein, wenn neues Leben gegeben wird. Danach werde ich entscheiden, wie es weitergeht, selbst wenn sie kommen, um mich zu holen. Besser wäre, sie täten es nicht. Besser für sie.
    Euch dreien wünsche ich alles nur erdenkliche Gute. Wir werden uns wohl nicht wiedersehen. Doch wer weiß? Vielleicht überrascht uns das Schicksal.
    Saga, ich weiß nicht, ob du zuletzt gefunden hast, was du gesucht hast. Hast du überhaupt etwas gesucht? Nicht einmal dessen bin ich sicher. Ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen.
    Faun, wir kennen uns kaum, und ich will nicht vorgeben, mehr als nur ganz wenig über dich zu wissen. Ich denke, dir steht noch e in letzter Schmerz bevor. Sei stark, wenn es so weit ist. Vielleicht irre ich mich. Aber eine Karmesin irrt sich selten. Es liegt nicht in unserem Blut.
    Tiessa, zuletzt du. Auch wir wissen zu wenig voneinander. Ich habe mein Leben lang Verpflichtungen erfüllt, die ich mir nicht ausgesucht habe. Ist das auch dein Schicksal? Ich wünsche es dir nicht. Aber du hast deine Entscheidung längst gefällt, das weiß ich. Von uns allen bist du vielleicht die Stärkste, auf deine Art. Ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen, dabei kenne ich viele. Auch ihr Leben im Palast der Karmesin besteht aus Pflicht und Demut, aber beides kann mit Stärke einhergehen. Deshalb wurden sie auserwählt. Ich glaube, dass auch du auserwählt wurdest. Dein Abenteuer ist vielleicht beendet, aber deine Prüfung mag erst noch beginnen.
    An dieser Stelle brach Tiessa für einen Moment ab, las die Zeilen stumm ein zweites und drittes Mal, ehe sie schließlich fortfuhr:
    Ich wünschte, ich würde nicht wie eine alte Schicksalskrähe daherreden. Ich kann lange Zeit schweigen, wenn es sein muss, aber gebt mir eine Feder und ein Stück Pergament, und ich erkläre euch die Welt.
    Vielleicht ist alles ganz anders.
    Vielleicht ist alles viel besser.
    Das wäre schön.
    Sie hatten Wochen, um zu reden, ehe die Küste Italiens vor ihnen am Horizont auftauchte.
    Saga sprach vom Lügengeist. Sie gab sich Mühe, ihren Frieden mit ihm zu machen. Eigentlich nur mit sich selbst, gestand sie schließlich. Hatte der Lügengeist je existiert? Sie wusste es nicht. Vielleicht war sie einfach nur eine gute Lügnerin, die die Schwäche anderer ausgenutzt hatte. Und womöglich bedeutete das nichts anderes, als dass sie schlecht mit der Wahrheit umgehen konnte.
    Ihre größte Stärke, das Lügen, hatte sich zuletzt als ihre größte Schwäche erwiesen; zu viel Unglück hatte sie damit angerichtet. Aber was, wenn sie die Wahrheit mit ebenso viel Kraft vertreten konnte wie die Lüge? Da sie Menschen Unwahres glaubhaft machen konnte, vermochte sie dasselbe vielleicht auch mit der Wahrheit. Vielleicht konnte sie Menschen dazu bringen, das Wahrhaftige zu akzeptieren, Gefallen zu finden an Hässlichkeit, Glück in der Armut, Segen im Unglauben.
    »Du redest wie eine Predigerin«, sagte Faun, als sie den anderen davon erzählte.
    Sie schüttelte den Kopf. »Bestimmt nie wieder.«
    »Ich habe auch etwas akzeptiert«, sagte Tiessa, wich Fauns Blick aus und schaute zur Küste.
    Er schwieg.
    Er wusste, was sie sagen würde.
    »Ich werde bald Kaiserin sein«, flüsterte sie in den Wind. »Es geht nicht anders.«
    Die Galeere ankerte im Hafen von Venedig. Die Passagiere durften das Schiff als Erste verlassen, ehe sich die Mannschaft mit den Waren aus dem Osten abmühte. Faun, Tiessa und Saga gingen gemeinsam ein Stück weit und setzten sich auf die Uferkante. Unter ihnen schlugen schmutzige Wogen gegen die Mauer, flössen zurück in Meer.

Weitere Kostenlose Bücher