Herrin der Lüge
Lügengeist heraufbeschwor. Jedermann musste ihr glauben – solange er glauben wollte.
»Mein Herr.« Saga war vorsichtiger in der Wahl ihres nächsten Schwindels. »Ihr seid schön anzuschauen, Ihr seid mit beträchtlichem Wohlstand gesegnet – aber seid Ihr auch ein gläubiger Mann?«
Niemand hätte das verneint. Die Ketzerfeuer im ganzen Land brannten auch unter dem neuen Kaiser Otto mit unverminderter Wut.
»Das bin ich«, sagte der Händler. »Gott sei mein Zeuge.«
»Dann seid Ihr sicher auch gewiss, dass ein Schutzengel Eure Hand und Euer Herz behütet.«
»Ist das so?«, fragte der Händler leise und nur in ihre Richtung, doch was da an Zweifel durchklang war schwach und ohne Überzeugungskraft.
»Siehe?; mein Herr, jeder hier weiß, dass ein Engel Euch zu Euren außergewöhnlichen Erfolgen verhilft.« Sie deutete auf eine Stelle neben seinem Kopf. »Da sitzt er, ich kann ihn sehen.« Sie lächelte in die Menge, versicherte sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und sagte dann zum Händler: »Ihr könnt es auch.«
Dem dicken Mann stand jetzt Schweiß auf der Stirn, aber aus seinen Augen war der letzte Rest von Argwohn verschwunden. Er schaute nach rechts und schien tatsäch lich zu sehen, was Saga ihm vorgaukelte. Weil er glauben wollte, dass ein Engel ihn schützte, sogar schon selbst über diese Möglichkeit nachgedacht hatte, war das Wesen jetzt für ihn sichtbar geworden. Allerdings nur für ihn allein.
»Ihr seht ihn!«, verkündete Saga und spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Meist wurde ihr schlecht vom Klang der Lügenstimme. Einmal hatte sie sich auf offener Bühne übergeben müssen, so abstoßend fand sie das Krächzen des Lügengeistes. Längst wusste sie, dass niemand sonst sie so hörte, dass die Stimme nur in ihrem Kopf diesen abscheulichen Tonfall hatte. Die Verunsicherung war seither gewichen, aber der Ekel blieb, wurde von Jahr zu Jahr immer schlimmer. Damals, als sie zum ersten Mal entdeckt hatte, was da in ihrem Inneren schlummerte, als sie erkannt hatte, dass sie lügen konnte wie niemand sonst auf der Welt – da war das für sie Furcht einflößender gewesen als ihre erste Blutung; vor beidem hatte niemand sie gewarnt. Manchmal kam ihr der Lügengeist wie ein eigenständiges Wesen vor, eine zweite Intelligenz hinter der ihren. Aber sie hütete sich, irgendwem außer Faun davon zu erzählen. Nicht einmal ihr Vater kannte alle Ängste, die sie mit der Lügenstimme verband. Er sah nur die Jahrmarktsattraktion. Welche Gefahr sollte schon von etwas ausgehen, das keinen eigenen Körper besaß?
Die Lüge war für ihn ein Talent, eine Kunst, vor allem aber ein Geschäft – und kein Risiko, solange man sie zu harmlosen Zwecken nutzte. Gaukelspiel, zum Beispiel. Brave Spaße auf Kosten anderer.
Der Händler zog mit der rechten Hand die Mütze vom Kopf und tupfte sich damit Schweißperlen von der Stirn. Die linke aber wanderte hinauf zu dem unsichtbaren Wesen auf seiner Schulter und tastete vorsichtig über ein Engelsgesicht, das nur er sehen konnte. Saga war stolz auf sich. Zielsicher hatte sie das perfekte Opfer für den Lügengeist aus der Menge gepickt: über die Maßen selbstverliebt und bereit, jede Lüge zu glauben, solange sie nur seiner Eitelkeit schmeichelte.
Das Publikum tobte. Häme überschwemmte den Burghof. Über allem hing der Duft von gebratenem Hammel und der Gestank der Tiergehege, in denen Schafe, Ziegen und Kühe den Tag über in der prallen Sonne den Käufern präsentiert wurden und nun halb betäubt vor sich hin dösten.
»Euer Engel wird Euch vor allem Schaden bewahren«, sagte Saga eindringlich und ignorierte das Rumoren in ihren Eingeweiden.
»Schon mein ganzes Leben lang«, bestätigte der Händler. Er klang weder benommen noch berauscht. Er war völlig überzeugt von Sagas Schwindel.
Der Rest war ein Kinderspiel. Saga hatte ihr Opfer in der Hand. Sie konnte verlangen, was sie wollte – solange der andere überzeugt war, dass der Schutzengel ihn sicher behütete, würde er jedes Risiko eingehen. Zu Schweinen in den Koben steigen und sich im Schlamm suhlen. Vor Publikum den nackten Hintern entblößen. Aber auch einer heimlich Geliebten alle Gefühle offenbaren. Saga musste ihr Opfer nur überzeugen, dass es zu seinem Besten geschah, dass sie selbst und das Publikum ihn dafür haltlos bewunderten. Für gewöhnlich schmückte sie ihre Lügen mit möglichst vielen Einzelheiten aus, auch deshalb waren sie oft so viel glaubwürdiger als die
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