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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Richtung. »Die wagemutige, die liebreizende, die wunderschöne … Saga-vom-Seil!«
    Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, strich ihr kastanienbraunes Haar zurück und überließ sich ihren erprobten Instinkten. Schwungvoll sprang sie neben ihren Vater auf die Bühne und stieß ihn spielerisch beiseite – so war es abgesprochen und zigmal ausgeführt. Er riss theatralisch die Hände empor und eilte buckelnd davon. Das Publikum grölte schadenfroh. Hölzerne Krüge stießen gegeneinander. Wein spritzte und troff aus Mundwinkeln.
    Saga begann ihre Ansprache. Laut und mit allerlei einstudiertem Wortwitz bereitete sie die Zuschauer auf den Höhepunkt des Abends vor. Sie endete mit einer tiefen Verbeugung und den Worten: »Lasst mich euch belügen und betrügen – und gebt reichlich von eurem Geld dafür!«
    Das Publikum johlte und klatschte. Ein paar kleine Kinder in vorderster Reihe quietschten vergnügt. Saga erkannte die beiden Jungen vom Wagen unter ihnen und war drauf und dran, einen von ihnen auf die Bühne zu holen. Dann aber fiel ihr Blick auf einen fetten Kerl, der weder applaudierte noch jubelte. Stattdessen betrachtete er das Treiben auf der Bühne mit der Arroganz eines Gockels. Er trug drei Tuniken übereinander, ein Zeichen bescheidenen Wohlstands; die oberste und kürzeste war mit Stickereien verziert. Trotz der lauen Abendluft hatte er eine Mütze auf dem Kopf, die mit schmuckvollen Bordüren besetzt war.
    »Ihr da!«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Ja, Ihr! Ein Edelmann seid Ihr gewiss, mein Herr, und einer, der etwas von Heiterkeit und Frohsinn versteht.«
    Den Zuschauern entging seine saure Miene nicht, was zu allerlei Gelächter führte. Saga wusste sehr wohl, dass der Dicke kein echter Adeliger war – nie hätte sie sonst gewagt, ihn offen zu brüskieren –, aber die Eitelkeit und schlechte Laune der Edlen war ihm zweifellos vertraut. Vermutlich war der Kerl ein Händler, der im vergangenen Frühjahr ein wenig Glück mit seinen Geschäften gehabt hatte – mehr Glück als Verstand, so wie er aussah.
    »Wollt Ihr mir wohl auf der Bühne Gesellschaft leisten?«, rief sie zu ihm hinüber, ehe er in der Menge untertauchen konnte.
    »Auf die Bühne! Auf die Bühne!«, rief das Publikum.
    »Seid unbesorgt, ich will weder Euren Beutel noch Eure Jungfräulichkeit!«, rief Saga in die Runde.
    Noch mehr Lacher. Ein Betrunkener trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust, als gelte der Jubel ihm. Sagas Vater sagte oft, es gäbe keine Anzüglichkeit, die nicht noch unterboten werden konnte. Die Masse ist dumm, pflegte er zu sagen. Ein Maultier hat mehr Verstand als hundert Menschen auf einem Haufen.
    Der Händler näherte sich der Bühne, mehr geschoben als aus freiem Willen. Schließlich erklomm er mit einem Ächzen das Podest und grinste nervös in die Runde, ehe er Saga einen finsteren Blick zuwarf.
    Sie achtete nicht darauf. Stattdessen verschloss sie sich vor allen äußeren Einflüssen und horchte in ihr Inneres. Horchte, bis sie den Lügengeist in ihren Gedanken fand und bereit war für ihren großen Auftritt.
    »Ihr seid ein stattlicher Anblick, mein Herr«, sagte sie mit der Stimme des Lügengeistes. Für jeden anderen unterschied sich der Klang dieser Worte nicht von den vorausgegangenen, doch in Sagas Ohren ertönten sie verzerrt und schrill. Es war eine abstoßende Stimme, die sie da aus ihrem Inneren heraufbeschwor; ganz und gar angemessen, dass sie allein der Lüge diente.
    »Nun ja«, stammelte der Händler und blickte an sich hinab. Mochte er vorher letzte Zweifel an seiner Erscheinung gehabt haben, so waren sie nun verflogen. Er glaubte Saga. Glaubte ihr jedes Wort. Die Macht des Lügengeistes ließ ihm keine andere Wahl – doch davon ahnte er nichts.
    »Die Menschen können nicht anders, als Euch zu lieben«, sagte Saga mit ihrer Lügenstimme. Sie auf einen einzelnen Menschen zu richten war einfach. Schwieriger war es, größere Gruppen in den Bann des Lügengeistes zu ziehen.
    »Ja, ja!«, schrien ein paar Männer im Publikum. »Wir lieben Euch!« Hässliches Gelächter erschallte aus allen Richtungen, aber der Händler schien es misszuverstehen. Er verbeugte sich, lüpfte seine Haube und genoss den hämischen Jubel.
    Sagas Vater hatte ihren Auftritt vollmundig angekündigt, und nun sah die Menge ihre Erwartungen bestätigt. Die beste Lügnerin auf Erden sollte sie sein, und, bei Gott, das war sie wohl.
    Keiner konnte sich ihren Worten entziehen, wenn sie den

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