Herrin der Lüge
Stimmen herüber, fromme Gesänge gemischt mit aufgeregtem Geplapper und, dann und wann, dem monotonen Singsang eines Gebets.
Jemand entdeckte Saga, noch bevor sie auf den Anblick reagieren konnte.
»Die Magdalena!«, schrie eine Frau, und andere stimmten mit ein.
Saga blieb stehen.
Violante war lautlos herangekommen. »Ich habe dich gewarnt.«
Herr der Lüge
Die Frauen verstummten, als Saga zwischen sie trat. Eine fiel auf die Knie und starrte mit glasigem Blick zu ihr empor, ein verzerrtes Lächeln auf den Lippen. Andere taten es ihr gleich. Schließlich kauerten alle achtzehn am Boden. Manche schauten auf, andere hatten in Demut die Häupter gesenkt.
Sie alle trugen einfache Kleider, die bis zu den Knöcheln reichten. Ihr Schuhwerk würde ihnen auf einer so langen Reise noch Sorge bereiten; manche hatten nur Lappen um ihre Füße gewickelt, andere trugen Sandalen, in denen sie sich spätestens im Gebirge blutige Zehen holen würden. Ein paar hatten Hauben auf dem Kopf, die unterm Kinn geschnürt wurden. Einige trugen das Haar zu Zöpfen geflochten.
Saga war nicht sicher, wie lange sie bereits unterwegs waren. War dies noch der Tag der Predigt? Oder hatte sie eine ganze Nacht ohnmächtig in der Kutsche gelegen? Wohl kaum. Die Sonne stand noch am Himmel, seit ihrem Aufbruch aus dem Dorf konnten höchstens ein paar Stunden vergangen sein.
Dann sah sie, dass sich einige der Mädchen Kreuze in die Stirn geschnitten hatten.
Blut und Staub hatten hässliche Krusten gebildet.
»Herrin«, wandte sich eine an sie, »sieh her, dies Muttermal.« Die dunkelhaarige junge Frau, vielleicht so alt wie Saga, stolperte auf die Füße und raffte ihr Kleid bis zu den Oberschenkeln. Mit zitterndem Finger deutete sie auf einen unregelmäßigen dunklen Fleck über dem rechten Knie. »Ein Kreuz, siehst du? Ich trage es seit meiner Geburt. Ich wusste, dass du kommen würdest, um uns ins Himmelreich zu führen. Ich habe es allen immer wieder gesagt. Die Erlösung ist nah, hab ich gesagt. Und dann, als wir zum ersten Mal von dir gehört haben, da hab ich ihnen zugerufen: Die Magdalena wird auch zu uns kommen und uns ins heilige Jerusalem führen.«
Saga blickte fahrig auf das Muttermal. Es gehörte eine Menge Einbildungskraft dazu, darin ein Kreuz zu erkennen. Was sie aber am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass dieses Mädchen bereits mit Hingabe an das Kommen der Magdalena geglaubt hatte, als sie selbst noch auf Marktplätzen Gaukelstücke vorgeführt hatte. Die Erkenntnis überkam sie mit solcher Intensität, dass sie beinahe bitter aufgelacht hätte.
»Und ich, Herrin«, rief eine zweite und sprang auf, »trage das Zeichen des Herrn im Auge.« Sie kam heran, und schon wollte einer der Söldner sie aufhalten. Doch Zinder, der von der Spitze des Zuges herbeigeritten war, hielt ihn mit einem Wink zurück.
»Im Auge?«, flüsterte Saga.
»Ja, Herrin. Hier, sieh!« Die junge Frau, recht hübsch, aber viel zu mager, mit Stupsnase und dunkelblonden Locken, trat ganz nah vor Saga und zog sich die Haut unter dem linken Auge herunter. Unter der Iris, gerade noch sichtbar, bevor das Weiß des Augapfels im glitzernden Rot verschwand, war ein kleiner Fleck zu sehen, nicht größer als der Kopf einer Fliege. »Wenn man genau hinsieht, erkennt man das Gesicht unseres Herrn Jesus Christus«, behauptete das Mädchen eifrig. »Ich schwöre, es war noch nicht da, bevor die Nachricht von deinem Kommen unser Dorf erreicht hat. Aber dann … dann ist es plötzlich erschienen, als Zeichen, mich dir anzuschließen.«
Saga machte einen Schritt zurück.
»Meine Schwester und ich«, sagte eine andere und zerrte ein zweites Mädchen am Ärmel mit sich auf die Füße, »meine Schwester und ich, wir haben die himmlischen Engelsscharen gesehen, als ihr ins Dorf kamt. Ganz deutlich, ich schwör’s bei meinem Leben! Die Wolken am Himmel haben sich verändert und wurden zu Engeln mit mächtigen weißen Flügeln und … und Schwertern! Blitzenden Schwertern im Sonnenschein!«
»Es hat geregnet, als wir in euer Dorf kamen«, sagte Saga. »Der Himmel war grau.«
Ein paar der Söldner lachten leise, aber Zinder brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.
»Die Wolken sind aufgerissen«, rief die junge Frau beharrlich. Sie war dick, mehr noch als ihre stämmige Schwester, was darauf schließen ließ, dass ihre Familie besser gestellt war als die der übrigen Mädchen. Sie schaute sich um, und jetzt war aufrichtige Verzweiflung in ihrem Blick.
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