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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war, die mit ihrer Eskorte ins Dorf kam, hatten die Menschen ihre Waffen sinken lassen.
    Jetzt, etwa eine Stunde später, fand Saga in den Mienen der Männer jede nur denkbare Regung. Einige hatten zu Anfang versucht, sie von ihrer Predigt abzuhalten, aber Zinders Söldner waren in ihrer eisenbewehrten, bewaffneten Masse einschüchternd genug, um Ausschreitungen zu verhindern. Die Väter und Brüder unter den Dorfbewohnern fürchteten um ihre Töchter und Schwestern, manch einer um seine Braut – diesmal nicht, wie noch zu Zeiten des Bürgerkrieges, aus Angst vor marodierenden Soldaten, sondern allein wegen all der Verheißungen, die über die Magdalena durchs Land geisterten.
    Niemandem in Dörfern wie diesem ging es gut, keiner war zufrieden mit seinem Los. Jedes zweite Bauernkind starb innerhalb der ersten Jahre an Krankheit oder Hunger. Frauen brachten alle ein bis zwei Jahre ein Neugeborenes zur Welt, in der Hoffnung, dass es lang genug lebte, sie im Alter zu versorgen. Falls die Gerüchte der Wahrheit entsprachen, dass die Magdalena junge Frauen im heiratsfähigen Alter in die Fremde lockte, war das für die Zurückgebliebenen nicht allein ein familiärer Verlust; es war eine Katastrophe für die gesamte Dorfgemeinschaft. Jedes Mädchen, das sich auf den Kreuzzug der Frauen begab, würde der Dorfgemeinschaft keinen Nachwuchs mehr schenken. Für Eltern und Geschwister konnte das in späteren Jahren Hunger und Tod bedeuten.
    Saga nahm die Umgebung wie durch einen Schleier wahr. Die Stimme des Lügengeistes sorgte dafür, dass ihr abermals übel wurde. Es war jetzt so viele Wochen her, seit sie ihn zuletzt beschworen hatte, dass die Intensität ihrer Abneigung sie unvorbereitet traf. Früher hatte sie ihn alle paar Tage in sich gespürt und den Klang seiner Worte vernommen. Mittlerweile aber hatte die Gewöhnung nachgelassen. Das entsetzliche Krächzen, das nur sie allein hören konnte, wühlte in ihren Innereien, schien sie auszuwringen wie ein feuchtes Tuch.
    Sie redete und redete über die Verheißungen Jerusalems und die Pflicht, sich an der gesta dei, dem Werk Gottes, zu beteiligen. Die Mädchen und Frauen bemerkten nichts von dem Aufruhr in Sagas Innerem. Die Ersten sanken vor ihr auf die Knie, übermannt von den Lockungen der Heiligen Stadt und Visionen ewiger Glückseligkeit. Kein Priester hatte je so überzeugend zu ihnen gesprochen, kein Wanderprediger sie so mit seinen Worten gefesselt.
    »Maria Magdalena ist mir erschienen«, rief Saga in die Menge, »viele Male, und sie sprach zu mir: Gehe hinaus und überbringe meinen Schwestern die Wahrheit! Nur sie vermögen das Joch der Ungläubigen zu zerbrechen! Nur sie können die heiligsten Stätten vom Sarazenenschmutz befreien!«
    Saga hatte zwei Wochen Zeit gehabt, um sich die Rede einzuprägen, und nun sprudelte sie wie von selbst über ihre Lippen. Einmal, ganz kurz, fragte sie sich, was Faun wohl über sie gedacht hätte. Sie verbreitete ein Wort Gottes, das in Wahrheit gar nicht von Gott, sondern einer verbitterten alten Nonne stammte; sie belog gutgläubige, ehrliche Menschen und brach damit ihren eigenen Vorsatz, niemals irgendwen bloßzustellen, der den Spott des Lügengeistes nicht verdient hatte; und sie drohte Familien auseinander zu reißen, die aufeinander angewiesen waren und in denen das Fortgehen Einzelner über Leben und Tod entscheiden mochte.
    Warum, zum Teufel, schämte sie sich nicht? Was tat der Lügengeist mit ihr, dass sie nicht verzweifelt zusammenbrach und allen hier zubrüllte, dass sie gezwungen worden war, die Rolle der Magdalena zu spielen, dass sie dies alles gar nicht wollte und sich schlecht dabei fühlte und eine Heidenangst hatte vor den Konsequenzen?
    Stattdessen redete sie und redete.
    Die Macht des Lügengeistes brach mit dem Klang ihrer Worte über das Publikum herein und ließ sich ebenso wenig steuern wie ein Sturmwind, der in die Gesichter der Menschen fauchte. Faun!, durchfuhr es sie in einer Aufwallung von Schuld. Ich tue das für dich! Nur für dich!
    Jemand schob sich am Rand der vorderen Reihe in ihr Blickfeld. Durch die Schlieren aus Schwindel und Übelkeit vor ihren Augen erkannte sie den Söldner mit der Zahnlücke. Ihre Blicke begegneten sich. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Grinsen. Sie hätte es gern erwidert, ermahnte sich aber, dass das wohl kaum im Einklang zu ihren erbaulichen Worten stünde. Gerade sprach sie von der Notwendigkeit, die Strapazen einer Kreuzfahrt auf sich zu nehmen, als sie

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