Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
»Hat es denn sonst keiner gesehen? Sonnenstrahlen sind durch die dunklen Wolken gefallen, und aus den Rändern wurden die Engel, und das Licht hat sich auf ihren Schwertern gespiegelt!«
    »Ich hab’s gesehen!«, rief eine schmutzige Rothaarige und drängte sich nach vorn. »Ich hab die Engel gesehen. Und die Schwerter!«
    »Ich auch!«, pflichtete eine andere bei.
    »Und ich hab Hörner gehört! Hörner vom Himmel!« Ein Mädchen, vielleicht das jüngste in der Gruppe, fuhr sich mit beiden Händen ins Haar, und für einen Moment sah sie aus wie eine Wahnsinnige. »Die Engel haben gesungen. Mit herrlichen Stimmen. Lieder wie in der Kirche – nur unendlich viel schöner!«
    Saga wich langsam zurück und stieß mit dem Rücken gegen Violante.
    »Du wolltest sie sehen«, flüsterte die Gräfin nah an Sagas Ohr. »Jetzt hör ihnen zu und tu so, als wüsstest du, wovon sie reden.«
    Erst hatte Saga geglaubt, die Mädchen wollten sie nur beeindrucken. Doch allmählich kam sie zu der Einsicht, dass sie tatsächlich an diese Dinge glaubten.
    »Mach schon«, forderte Violante flüsternd.
    Die achtzehn jungen Frauen sahen Saga erwartungsvoll an.
    Ich will das nicht!, durchfuhr es sie. Ich will mit alldem nichts zu tun haben!
    »Der Herr hat euch seinen Willen offenbart«, sagte sie mit bebender Stimme, zu schwach, um den Lügengeist heraufzubeschwören. Sie musste weg hier, fort von all diesen Augen, die sie unverwandt anstarrten, hoffnungsvoll, angstvoll, erfüllt von einer Erwartung, die sie niemals erfüllen konnte. »Er hat euch seine Wunder gezeigt und den rechten Weg gewiesen.«
    »Ihr seid seine wahren Töchter«, wisperte Violante ihr ins Ohr.
    »Ihr seid seine wahren Töchter«, wiederholte Saga und verachtete sich dafür. Solange sie nicht mit der Stimme des Lügengeistes sprach, spürte sie Widerwillen und Skrupel. Das beruhigte sie ein wenig. Aber nicht sehr.
    Eine der Frauen begann zu beten, die anderen fielen mit ein.
    Saga stand da, ungläubig, fassungslos, von dem unwirklichen Anblick ins Herz getroffen. Was sollte sie tun? Abwarten? Sich zurückziehen?
    »Bete mit ihnen«, forderte Violante leise.
    »Ich kenne ihre Gebete nicht.«
    »Dann bewege deine Lippen!«
    Kurz war Saga versucht, den Wunsch der Gräfin zu erfüllen. »Dann aber drehte sie sich um, kreuzte Violantes Blick und lief zurück zu ihrer vergitterten Kutsche.
    Das Murmeln der Frauen folgte ihr.
    »Schluss jetzt!«, übertönte Zinders Ruf die Gebete nach einer Weile. »Aufbruch! Es geht weiter!«
    Einige Tage später, am Abend nach Sagas dritter Predigt, lagerte der Zug am Ufer eines Sees. Die Feuer erleuchteten einen Teil seiner glatten Oberfläche, nicht weit entfernt löste sich das Wasser in Schwärze auf, endete abrupt wie eine abgebrochene Schieferplatte. Rund um das Ufer beugten sich Trauerweiden über den See, berührten mit ihren Zweigen die sanften Wellen, als tasteten sie darin nach ertrunkenen Kindern.
    Alles in allem folgte den Söldnern und Wagen nun ein Tross von siebenundsechzig jungen Frauen, die Ausbeute dreier Ansiedlungen im Nirgendwo, weitab von allen großen Städten und einer wachsamen Obrigkeit. Im dritten Dorf hatten die Zusammenstöße mit den Vätern, Brüdern und Gefährten der Mädchen an Schärfe gewonnen. Blut war geflossen, als Zinder seinen Söldnern befohlen hatte, die Ausschreitungen um jeden Preis zu unterdrücken. Ein paar der Mädchen entwickelten daraufhin einen solchen Widerwillen, ihnen zu folgen, obgleich sie doch an Sagas Worte glaubten, dass sie in ihrer Verzweiflung und Hin- und Hergerissenheit durchgingen wie wilde Pferde und in den Wäldern verschwanden. Saga hoffte inständig, dass sie irgendwann zur Vernunft kommen und zu ihren Familien zurückkehren würden.
    Die meisten aber waren nur zu bereit, die Herrschaft ihrer Familien und Männer hinter sich zu lassen. Manche der Mädchen lehnten sich offen gegen ihre Väter auf und suchten Schutz bei Zinders Söldnern. Andere rissen sich von ihren Geliebten los und folgten dem Tross der Kreuzfahrerinnen.
    Zinder ließ das Ende des Zuges jetzt stärker bewachen als zuvor, weil er fürchtete, aufgebrachte Dörfler könnten sich bewaffnen und ihnen in den Rücken fallen. Doch bislang war nichts dergleichen geschehen, die Reise nach Süden verlief friedlich und ohne Zwischenfälle. Einmal am Tag musste Saga zu den Frauen sprechen, und sie begann, sich an die Beteuerungen göttlicher Gesichter, kreuzförmiger Leberflecken und blutender Stigmata zu

Weitere Kostenlose Bücher