Herrin Der Stürme - 2
wetteifern wird, diesem Kind Mutter zu sein, nicht wahr?«
»Solche Worte sind deiner nicht würdig, Mikhail«, erwiderte Deonara, Alicianes Kind eng an sich drückend. »Ich habe Aliciane geliebt. Möchtest du, daß ich ihr Kind jetzt von mir weise? Kann ich meine Liebe nicht am besten dadurch zeigen, daß ich es so liebevoll aufziehe, als sei es mein eigenes? Sonst nimm sie, mein Gatte, bis du eine andere Geliebte findest.« So sehr sie sich auch mühte – Lady Aldaran konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht zurückhalten. »Sie ist dein einziges Kind. Und wenn sie jetzt schon Laran besitzt, wird sie viel Fürsorge brauchen. Meine armen Babys haben nicht einmal so lange gelebt.« Sie legte das Kind in Dom Mikhails Arme, der es mit unendlicher Zärtlichkeit und Sorge ansah.
Maryas Fluch hallte in seinem Kopf wider: Du wirst keine andere in dein Bett nehmen … Deine Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöter Baum. Als teile sich sein Entsetzen dem Säugling in seinen Armen mit, begann dieser erneut zu strampeln und zu schreien. Hinter dem Fenster tobte der Sturm.
Dom Mikhail schaute in das Gesicht seiner Tochter. Dem kinderlosen Mann erschien sie unendlich kostbar; und das würde sie um so mehr sein, falls der Fluch sich bewahrheiten sollte. Steif lag sie in seinem Arm und schrie. Ihr kleines Gesicht war verzerrt, als versuche sie, die winzigen rosa Fäuste voll Zorn geballt, die Wut des Sturms zu übertreffen. Er konnte in ihrem Gesicht schon ein verschwommenes Miniaturbild Alicianes erkennen – die geschwungenen Brauen, die hohen Wangenknochen, die Augen von strahlendem Blau, der Flaum aus rotem Haar.
»Aliciane starb, um mir dieses große Geschenk zu machen. Sollen wir dem Kind zur Erinnerung den Namen seiner Mutter geben?« Deonara schreckte zurück. »Willst du deiner einzigen Tochter den Namen einer Toten verleihen, mein Fürst? Du solltest einen suchen, der besseres verheißt!«
»Wie du wünschst. Gib ihr einen Namen, der dir gefällt, Domna.« Zögernd sagte Deonara: »Ich wollte unsere erste Tochter Dorilys nennen, hätte sie lange genug gelebt, um einen Namen zu bekommen. Sie soll diesen Namen tragen, als Zeichen dafür, daß ich ihr eine Mutter sein werde.« Sie berührte die rosige Wange des Kindes mit dem Finger. »Wie gefällt dir dieser Name, kleine Frau? Schau – sie schläft. Sie ist vom vielen Schreien erschöpft …«
Hinter den Fenstern verebbte der Sturm und erstarb, und kein Geräusch war zu hören, außer dem verhaltenen Trommeln der letzten Regentropfen.
3
Elf Jahre später
Es war die dunkle Stunde vor der Morgendämmerung. Leise fiel Schnee auf das Kloster von Nevarsin, das unter tiefem Schnee begraben war. Obwohl es keine Glocke gab, die sie morgens weckte, erwachten in jeder Zelle und jedem Schlafraum die Brüder, Novizen und Schüler aus dem Schlaf, als hätten sie ein unhörbares Signal gehört.
Allart Hastur von Elhalyn wachte abrupt auf. Auch in seinem Kopf war etwas erklungen, für das er empfänglich war. In den ersten Jahren seines Hierseins hatte er oft darüber hinweggeschlafen. In diesem Kloster würde niemand einen anderen wecken; es war ein Bestandteil der Ausbildung, daß die Novizen das Unhörbare hörten und das Unsichtbare sahen.
Die Kälte spürte er nicht, obwohl er vorschriftsmäßig nur mit einem Umhang bedeckt war; inzwischen hatte er seinen Körper so weit unter Kontrolle, daß er genug Wärme erzeugte, um ihn während des Schlafs nicht frieren zu lassen. Ohne ein Licht anzuzünden stand er auf, zog den Umhang über die einfache Unterkleidung, die er bei Tag und Nacht trug, und glitt mit den Füßen in die strohgeflochtenen Sandalen. Er steckte das kleine Gebetbuch, den Federkasten und das versiegelte Tintenhorn, die Schale und einen Löffel in seine Taschen. Damit war er mit allem ausgestattet, was ein Mönch benutzen und besitzen durfte. Dom Allart Hastur war noch kein vollvereidigter Bruder von Sankt-Valentin-imSchnee von Nevarsin. Es würde noch ein Jahr dauern, bis er die letzte Brücke, die ihn von der unter ihm liegenden Welt trennte, hinter sich würde abbrechen können. Es war eine beunruhigende Welt, an die er sich jedesmal erinnerte, wenn er die Lederriemen seiner Sandalen anzog; denn in der Welt der Güter galt das Wort Sandalenträger als äußerste Beleidigung für einen Mann und unterstellte weibisches Benehmen oder noch Schlimmeres. Selbst jetzt, als er den Riemen befestigte, sah sich Allart gezwungen, seinen Geist aufgrund der
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