Herrin Der Stürme - 2
Erinnerung zu beruhigen. Er machte drei leichte Atemzüge – Pause – wiederholte sie und murmelte dazu ein Gebet gegen die Ursache seiner Erregung. Er war sich der Ironie, die darin lag, schmerzlich bewußt.
Bete ich für den Frieden meines Bruders, der mir diese Beleidigung zugefügt und mich um meiner Gesundheit willen hierher getrieben hat? Als er merkte, daß er noch immer Ärger und Groll verspürte, wiederholte er das rituelle Atmen, verbannte den Bruder entschlossen aus seinen Gedanken und rief sich die Worte des Vorstehers ins Gedächtnis.
»Du hast keine Macht über die Welt oder ihre Dinge, mein Sohn; du hast jedwedem Wunsch nach ihr entsagt. Die Macht, die zu erwerben du hierher kamst, ist die Macht über die Dinge im Innern. Friede wird nur dann einkehren, wenn du dir voll bewußt wirst, daß deine Gedanken nicht von außen kommen. Sie kommen von innen und sind dadurch gänzlich dein. Es sind die einzigen Dinge in diesem Universum, über die man gerechterweise vollkommene Macht haben darf. Du, nicht deine Gedanken und Erinnerungen, beherrschst deinen Geist. Du – und niemand anders – bist es, der sie kommen und gehen heißt. Der Mann, der seinen eigenen Gedanken erlaubt, ihn zu quälen, ist wie der Mann, der eine Skorpion-Ameise an seine Brust drückt und ihr befiehlt, ihn wiederholt zu beißen.«
Allart wiederholte die Übung. Sobald er sie beendet hatte, war die Erinnerung an seinen Bruder aus seinen Gedanken verschwunden. Für ihn gibt es hier keinen Platz, nicht einmal in meinen Gedanken und Erinnerungen. Beruhigt, mit weißen Atemwolken vor dem Mund, verließ er die Zelle und bewegte sich leise den langen Gang hinunter.
Die Kapelle, zu erreichen durch einen kurzen Weg im herabfallenden Schnee, war der älteste Teil des Klosters. Vor vierhundert Jahren war die erste Gruppe von Brüdern hierher gekommen, um hoch über der Welt, der sie zu entsagen wünschten, ihr Kloster aus dem Fels des Bergs zu graben. Sie hatten die kleine Nische ausgehöhlt, in der der Sage nach Sankt-Valentin-im-Schnee sein Leben aushauchte. Um die sterblichen Überreste des Eremiten herum war die Stadt gewachsen: Nevarsin, die Schneestadt.
Jetzt gab es hier mehrere Gebäude, von denen jedes einzelne, ungeachtet der Hilfsmittel dieser Zeit, durch die Hände aller Mönche entstanden war. Die Brüder waren stolz darauf, nicht einen einzigen Stein mit Hilfe einer Matrix bewegt, sondern alles mit Händen und Geist geschaffen zu haben.
Die Kapelle war dunkel. Ein einzelnes kleines Licht glühte in jenem Schrein, in dem die Statue des Heiligen Lastenträgers über der letzten Ruhestätte des Heiligen stand. Mit ruhigen Bewegungen und geschlossenen Augen, wie es die Regeln verlangten, wandte Allart sich seinem Platz in den Bankreihen zu. Wie ein Ganzes kniete die Bruderschaft nieder. Allart, dessen Augen noch immer vorschriftsmäßig geschlossen waren, hörte das Fußrascheln und das gelegentliche Straucheln eines Novizen, der sich noch auf den äußeren, statt auf den inneren Blick verlassen mußte, um seinen ungeschickten Körper durch die Dunkelheit des Klosters zu bewegen. Die Schüler, noch nicht vereidigt und ohne geringste Ausbildung, stolperten in der Dunkelheit. Sie verstanden noch nicht, weshalb die Mönche Licht weder erlaubten noch benötigten. Flüsternd, einander anrempelnd, stolperten sie und fielen manchmal hin, aber schließlich befanden sich alle auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Ohne ein wahrnehmbares Signal erhoben sie sich in einer einzigen, kontrollierten Bewegung, als folgten sie einem unsichtbaren Signal des Pater Vorsteher. Ihre Stimmen erhoben sich zur Morgenhymne:
»Eine einzige Macht schuf Himmel und Erde,
Berge und Täler,
Dunkel und Licht;
Mann und Frau,
Mensch und Nichtmensch.
Diese Macht ist nicht zu sehen,
Ist nicht zu hören,
Ist nicht zu ermessen.
Von nichts außer dem Geist, der teilhat an dieser Macht. Ich nenne sie göttlich …«
Das war der Augenblick eines jeden Tages, in dem Allarts innere Fragen, Sehnsüchte und Sorgen völlig verschwanden. Wenn er die Stimmen seiner Brüder singen hörte, alte und junge, kindlich schrill oder altersrauh, wenn seine eigene Stimme sich in dem großen Konsens verlor, dann sah er sich nicht mehr in dem Gefühl einer getrennt suchenden und fragenden Einheit. Schwebend ruhte er in dem Wissen, daß er der Teil eines Größeren war, ein Teil der großen Macht, die die Bewegung der Monde, Sterne, der Sonne und des dahinterliegenden unbekannten
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