Herrin des Blutes - Thriller
»Ach ja? Und was ist mit uns? Warum sind wir noch am Leben?«
Ihr Lächeln gewann etwas an Herzlichkeit. »Weil ich dem Orden angehöre. Ich bin unbarmherzig und ihr interessiert mich nicht. Aber ich halte mein Wort. Wenn du das hier überlebst, lasse ich dich und deine Frau ziehen.«
Chad nickte in Jims Richtung. »Und was ist mit meinem Freund?«
»Auch er hat eine Abmachung mit dem Orden getroffen.«
Chad sah ihn fragend an. »Wovon redet sie?«
Jim seufzte. »Du würdest es nicht verstehen. Du musst es auch nicht verstehen.« Er wandte sich von Chad ab und bedachte Bai mit einem entschlossenen Blick. »Lass es uns zu Ende bringen.«
Die Asiatin nickte und trat vor einen der großen Türflügel.
Sie umfasste den Knauf mit einer ihrer zierlichen Hände, drehte daran und zog die Tür auf. Ein grelles weißes Licht blendete sie und trieb ihr das Wasser in die Augen.
Dann sah Chad, was im Inneren auf sie wartete, und schnappte wie erstickend nach Luft.
Kapitel 31
Tief in ihrem fiebrigen Schlaf ging ein heftiges Beben durch Giselles Körper. Sie träumte von Blut. Es war überall. Schoss aus frisch geschlagenen Wunden. Spritzte aus den Stummeln abgetrennter Gliedmaßen wie Sperma aus einem pulsierenden Schwanz. Ein mächtiger dunkelroter Ozean bildete sich unter den Leichen Hunderter Opfer. Eine tiefrote Flut, die durch die Flure des alten Gutshauses schwappte, das nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Gebäude aufwies, das sie ein paar Monate lang so unbarmherzig regiert hatte.
Dann eine Rückblende, ein Sprung zurück in der Zeit. Das Blut, das sie jetzt sieht, quillt aus Wunden im Körper ihres kleinen Bruders. Wunden, die sie ihm auf Befehl des Meisters zugefügt hat, um ihr eigenes Leben zu retten. Er hat sie für diesen Blutverrat belohnt und seine magischen Kräfte eingesetzt, um den Alterungsprozess ihres Körpers aufzuhalten und sie in einem Zustand perfekter jugendlicher Schönheit zu konservieren. Sie ist seit über 50 Jahren am Leben, wird aber niemals älter aussehen als 17 oder 18. Der Preis, den ihre Seele für dieses zweifelhafte Geschenk zahlen muss, ist jedoch hoch. Der Ausdruck entsetzlicher Qualen auf dem Gesicht ihres Bruders lauert seitdem stets in ihrem Hinterkopf und droht hin und wieder, sich gemeinsam mit seinen gebrüllten Anschuldigungen an die Oberfläche vorzukämpfen.
Und natürlich kehrt er auch jetzt zurück, um ihr Gewissen heimzusuchen und sie zu bedrängen.
Giselle erwachte keuchend, ihre Seele aufgewühlt vom lange unterdrückten Anblick ihres vor Jahrzehnten getöteten Bruders. Ihr Erwachen allein reichte nicht aus, um die Erinnerungen zu vertreiben. Sie zitterte am ganzen Körper und ihr Herz raste wie bei einem Marathonläufer nach dem Zieleinlauf. Ein manisches Bumm-Bumm-Bumm, welches das Blut in ihren Ohren zum Singen brachte. Lag es an den so präsenten Visionen von ihrem Bruder, seinem winselnden Flehen um Gnade? Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen und flossen über die kalten Wangen. Sie konnte sich wieder an alle Einzelheiten erinnern. Wie er wieder und wieder nach seiner Mommy und seinem Daddy rief, obwohl sie längst tot waren. Obwohl er zugesehen hatte, wie sie gestorben waren. Als wäre ein Teil von ihm tatsächlich davon überzeugt, ihre verstümmelten Körper könnten zu neuem Leben erwachen und ihm zu Hilfe eilen. Das war es schließlich, was Mütter und Väter taten. Sie standen dir bei, wenn du in der Klemme stecktest. Sie hielten den bösen schwarzen Mann fern, nahmen dich in den Arm und wiegten dich hin und her, wenn es dir nicht gut ging. Er war damals noch ein kleines Kind und konnte nicht begreifen, dass es niemanden mehr gab, der diese Rolle für ihn übernehmen konnte. Nicht einmal seine ältere Schwester, die er so vergötterte, denn sie hatte sich auf feige Weise gegen ihn gewandt, um ihre eigene Haut zu retten.
Giselles Schrei hallte in der dunklen Kammer wider.
Sie schüttelte heftig den Kopf, und ihr schweißnasses, strähniges Haar flatterte durch die Dunkelheit. Sie weinte und brabbelte wie eine Verrückte, die man in die Gummizelle einer psychiatrischen Anstalt gesperrt hatte.
NEIN!NEIN!NEIN!
NEIN!NEIN!NEIN!NEIIIIIiiiiiiin …
Aber die schrecklichen Bilder aus ihrer Vergangenheit wollten einfach nicht verblassen. Es schien beinahe, als zwänge sie etwas dazu, diese grauenvollen Momente erneut zu durchleben. Warum? Weil sie ihren Erinnerungen ein einziges Mal freien Lauf gelassen und ihnen im Horrorkabinett ihres Geistes Platz
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