Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
aufgeregt. Diesmal hatte er es auf den Antiamerikanismus abgesehen.
Mitten in unseren Unterhaltungen war ein Eisverkäufer auf seinem Dreirad vorbeigestrampelt, ein alter Mann, der eine jugendliche weiße Kappe mit dem Coca-Cola-Signet trug. Ein kleines Sonnendach schmückte sein Wägelchen, über dem lauter bunte Luftballone wehten.
»Ich habe den Eindruck«, sagte Z., »daß viele von Ihnen mit den Vereinigten Staaten unzufrieden sind. Atombomben, Waffenkult, Vietnam, Irak, CIA und so weiter und so fort. Das kann ich verstehen. Aber in diesem Zusammenhang wird dann gewöhnlich auch noch der Kulturimperialismus angeprangert. Das will mir nicht einleuchten. Denn dieselben Leute, die daran Anstoß nehmen, machen mit Vorliebe von den Wohltaten Gebrauch, die wir den Amerikanern verdanken. Das merken sie nur nicht, weil das Selbstverständliche sich unsichtbar macht. Zum Beispiel der alte Eisverkäufer da drüben, der geradewegs aus einem Hollywoodfilm zu kommen scheint.
Ich möchte Sie an die vielen verkannten Triumphe der amerikanischen Zivilisation erinnern: das Kreuzworträtsel, den Cocktail, das Papiertaschentuch, die Pille, den Toaster, die Erdnuß, den Reißverschluß, die Taschenlampe …«
Diesen Katalog, der auszuufern drohte, unterbrach ein Geplärr, das aus der Entfernung laut und deutlich zu vernehmen war. Eine Schar von Kindern hatte den Karren des Eisverkäufers umzingelt und schrie, weil die Kindergärtnerin sich weigerte, ihnen eine Softeis-Waffel zu kaufen.
Z. sah diesem Treiben mit einem Anflug vonUngeduld zu, und nun war es der Student, der spöttisch lächelte.
79 Irgendwo habe er gelesen, bemerkte Z., daß die Metapher der Wurm in der
Metaphysik sei. Er frage sich, ob das nicht auch für die heutigen Naturwissenschaften gelte. Besonders anfällig seien die theoretische Physik und die Kosmologie. Seitdem uns die großen Erzählungen der Mythologie und der Religion abhanden gekommen seien, hätten die Forscher die Leerstelle mit herrlichen Bildern aufgefüllt. Wie dereinst Thales, Parmenides und Heraklit gäben sie sich, jenseits ihrer Formeln, einer Elementarpoesie hin, die auf experimentelle Überprüfungen verzichte. Den Materialismus ihrer Väter aus dem neunzehnten Jahrhundert hätten sie weit hinter sich gelassen.
Alles Stoffliche sei ihnen gleichsam unter den Händen verdunstet; es habe sich in Quarks, Quanten und Felder aufgelöst. Sie schwärmten von zehn- bis elfdimensionalen Strings, von dunkler Materie und dunkler Energie, von Wurmlöchern (!), Quasi-Partikeln und Branen. Unentscheidbare Fragenschreckten sie nicht, sondern beflügelten ihre Phantasie. Den Astrophysikern liege es fern, sich zu einigen; wem der Big Bang Kopfschmerzen bereite, der gebe eben dem Big Crunch , dem Big Freeze , dem Big Crumble oder dem Big Bounce den Vorzug oder begnüge sich mit dem Steady State ;und wenn den Kosmologen das Weltall zu klein werde, ersännen sie ein Multiversum, das sich bis ins Aschgraue vervielfältige. Den Dichtern, schloß Z., dürfte es künftig schwerfallen, mit der Poesis der Wissenschaften zu konkurrieren.
80 In politischen Konflikten, sagte Z., fielen ihm immer wieder sonderbare gemeinsame Interessen der verfeindeten Partner auf: zwischen dem KGB und der CIA, dem BKA und der RAF, der Regierung Netanjahu und der Hamas. Mit moralischer Äquivalenz habe das nichts zu tun. Es gehe vielmehr darum, daß jeder der Kontrahenten auf den andern angewiesen sei. Diese gegenseitige funktionale Abhängigkeit gleiche zwei geneigten Bleiplatten, die einander stützten.Nehme man die eine weg, so falle die andere krachend um.
81 Als er merkte, daß einer von uns einzunicken drohte, nahm Z. das zum Anlaß, über den Schlaf zu reden. »Es freut mich«, sagte er, »daß die Wissenschaft hier vor einem Rätsel steht. Die Ursache für diese Wohltat der Natur ist, aller Expertise zum Trotz, unbekannt. Unter den Lebewesen, die wir kennen, gibt es Kurz-, Lang- und Siebenschläfer, aber warum eine Maus zwanzig Stunden die Augen zumacht, während die Giraffe mit einem Zehntel davon auskommt, weiß niemand. Die Somnologen in ihren Labors messen zwar Dauer, Tiefe und Frequenz, doch hapert es gewaltig an Erklärungen, und sie können weder die Schlaflosigkeit noch die Schlafsucht heilen. Nur an Traumdeutern hat es nie gefehlt.
Fest steht lediglich, daß der Mensch nichts Böses anrichten kann, solange er schläft. Schon deshalb sollte man, solange das Haus nicht brennt, keinen wecken.«
82 Alle Menschen
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