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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Ihnen Notizen macht? Früher, als es noch keine Kopierer gab, soll so etwas an den Universitäten gang und gäbe gewesen sein. Die hatten diese Gewohnheit von den Griechen übernommen, die auch schon fleißig mitgeschrieben haben. Sie nannten die Sprüche ihrer Redner, Eremiten und Philosophen etwas hochtrabend Apophthegmata . Ich entschuldige mich für dieses teure Fremdwort, schon weil es mit meinem Griechisch nicht zum besten steht.
    ›Der Sieg über jede Plage, die über dich kommt, ist das Schweigen‹, soll einer jener Wüstenväter gesagt haben. Nicht schlecht, wenn auch ein performativer Widerspruch.«

94 »Also tun Sie, was Sie nicht lassen können, auch für den Fall, daß Sie mich mißverstehen! Ein Protokoll ist nämlich stets mitVorsicht zu genießen. Abgesehen davon macht jeder Leser mit dem Text, den er vor sich hat, ohnehin, was er will. Damit wird er nicht der erste sein; denn schon Verleger, Redakteure, Lektoren, Setzer und Drucker bearbeiten, ergänzen, manipulieren, oft ohne es zu merken, die Vorlage.
    In Leonce und Lena las man hundert Jahre lang, wie Valerio den lieben Gott um eine ›kommende Religion‹ bat, bis ein Philologe auf die Idee kam, in Büchners Manuskript nachzusehen, und feststellte, daß Büchner eine ›commode Religion‹ im Sinn hatte.«

95 »Die Textkritik tut gut daran, sich um die kleinsten Details zu kümmern«, ergänzte Z. seine Rede, »denn dazu ist sie erfunden worden. Diese sorgfältigsten aller Leser streiten sich schon über die geringsten Errata. Anders die Dichter, die sich immer wieder verschreiben und deren Manuskripte oft unleserlich sind. Hans Arp soll sich bei seinem Setzer dafür bedankt haben, daß der tüchtige Mann versehentlich seine Gedichte verbessert hatte.
    Man sieht daraus, daß manche Errata und Mißverständnisse zu begrüßen sind. Wer sich vor ihnen fürchtet, versteht wenig von den Launen der Literatur.«

96 Er selber hätte eine dritte Lesart zu Büchners Komödie zu bieten. Wie wäre es mit einer »kompletten Religion«? »Ein Glaubensbekenntnis, das Gehör finden will, braucht nicht nur eine richtige Orthodoxie, sondern ebensowohl wilde Propheten, Eremiten und Heilige, Zeloten und Versöhnler. Auch ohne Mystiker, die von den Hohenpriestern mit Argwohn betrachtet werden, geht es nicht. Vor allem aber sind die Ketzer unentbehrlich; ohne sie kann keine Kirche auskommen.«

97 »Gutenberg hat«, so Z., »wie lange vor ihm die Chinesen, die Lettern beweglich gemacht, aber eben damit den unbeweglichen Text geschaffen. Das Blei sorgte für eine nur durch Schlamperei und Errata gemilderte Zuverlässigkeit der Überlieferung. Von dieser Treue zum Text ist seit dem Siegeszug der Elektronik nichts übriggeblieben. Seither kann jeder mit dem, was er liest, schalten und walten, wie er will. Die Demokratie verflüssigt alles. Bald wird in dieser Brandung nicht mehr auszumachen sein, was einer ursprünglich hat sagen oder gar schreiben wollen.«

98 Später sagte Z.: »Bei unseren Begegnungen geht es zu wie in einem Aquarium. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß wir an manchen Tagen unter uns sind, während sich am nächsten Nachmittag ein ganzer Schwarm bildet. Ist das der reine Zufall, oder sorgen Attraktoren, die niemand durchschaut, dafür, daß sich in diesem kleinen Phasenraum Übereinstimmungen und Konflikte herausbilden? Die Leute kommen vorbei, stutzen, bleiben stehen, äußern sich oder schweigen, und irgendwann gehen sie weiter … Finden Sie nicht, daß das wunderbar ist?«
    Zu dieser Stunde hatten sich alle Zuhörer bis auf zwei verabschiedet. So war es zu einem ungeplanten Privatissimum gekommen.
    Der eine, ein bärtiger Obdachloser, war schwer zu verstehen, weil er vor sich hin lallte. Der andere, es war der knochige Soziologe, nahm die Gelegenheit wahr, einen Verdacht zu äußern. »Ich habe das Gefühl«, erklärte er, »daß nicht nur Sie, Herr Z., sondern wir alle die ganze Zeit beobachtet, um nicht zu sagen, überwacht werden.«
    »Wie kommen Sie denn auf so eine Idee?«
    »Es gibt Gerüchte, die darauf hindeuten. Einer unter den Anwesenden soll sich mehr als einmal nach Ihren Absichten und Ihren Lebensumständen erkundigt haben.«
    »Sie vermuten also einen Spitzel. Aber wer könnte das sein? Bitte werden Sie deutlicher.«
    »Mir ist der schweigsame Herr mit der Sonnenbrille aufgefallen, der sich stets im Hintergrund hält und noch nie eine Frage gestellt oder eine Meinung geäußert hat.«
    »Das ist absurd«, erwiderte Z. »Allein

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