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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Flucht.
    «Du hast den Ausgang gesucht, Mann, und du hast ihn gefunden», brüllte Geoffrey Weise ihm hinterher. «Ist dir klar, wie symbolisch das ist?»
    Keuchend und mit zitternden Knien blieb Carl an der nächsten Kreuzung stehen. Er sah sich um und wusste nicht, wohin, als ihn schon wieder jemand von hinten an der Schulter packte. Oder eher nicht packte, sondern ihm sanft seine Schulter massierte.
    «Hey, hey, hey», sagte der strahlende Risa und hielt Carl ein Schlüsselbund vors Gesicht. «Kannst du Auto fahren, Hobbyterrorist? Ich brauch einen, der mich nach Tindirma fährt. Zehn Dollar oder Mine mit Riesenwums. Oder beides. Okay?»
    Carl lehnte das Angebot zuerst ab, aber dann fiel ihm der gelbe Mercedes ein, den er in Tindirma zurückgelassen hatte, und er griff nach dem Schlüssel.
    Fast den ganzen Weg durch die Wüste döste Risa mit dem Kopf ans Beifahrerfenster gelehnt. Im Licht der Scheinwerfer tauchte das Salzviertel auf, die Piste, die Ziegelkamele, die Tankstelle, Tindirma.
    In den Straßen um die Kommune herum standen Brandruinen. Familien saßen bei ihren Möbeln auf der Straße und schliefen. Carl fand den Mercedes bis auf ein paar Ascheflocken auf der Windschutzscheibe unbeschadet vor, und Risa, der vergeblich versuchte, ihn zum Dank noch in ein Bordell einzuladen, drückte ihm zum Abschied zu den zehn Dollar noch weitere zehn in die Hand und sagte: «Wenn du’s dir anders überlegst. Das Leben ist kurz.»
    Das Leben ist kurz. Der Satz, der nur eine Floskel war, ging Carl nicht mehr aus dem Kopf. Während der ganzen Fahrt zurück nahm er nicht einmal den Fuß vom Gaspedal. Er raste. Die Tankstelle, die Ziegelkamele, die Piste, das Salzviertel. Ein oder zwei Kilometer vor dem Suq und schon in Sichtweite des über dem Häusermeer weithin aufragenden Sheraton schoss er in eine sandige, steinige Straße hinein. Der Mercedes schleppte eine meterhohe, von der frühen Morgensonne phantastisch angestrahlte Staubwolke hinter sich her, und als die Staubwolke sich über den kleinen Handwerkerläden, den Obstständen, dem Suq und dem Dampfbad der Ville Nouvelle wieder gelegt hatte, parkte dort zwischen Dampfbad und Kriegerdenkmal ein weißes Cabrio, in dem vier Männer saßen. Ein bemerkenswert schönes Auto, es war ein Alfa Spider mit roten Ledersitzen.
    Der Fahrer des Spider hatte einen Pappteller mit einem Fleischgericht auf das Armaturenbrett hinter dem Steuer gestellt und griff mit zehn Fingern zu. Er war klein, schlank und drahtig. Seine Bewegungen hatten etwas Cholerisches an sich, selbst bei einer so harmlosen Tätigkeit wie Essen. Mit beiden Händen schob er sich tropfende Fleischstückchen in den Mund. Dann – mit vollgestopften Backen und wie eine beim Grasen gestörte Kuh – hielt er plötzlich im Kauen inne, als die Staubwolke ihn einhüllte, spuckte Teile seines Essens auf das Tachometer und drehte sich, als die Sicht wieder klarer wurde, aufgeregt nach den anderen Wageninsassen um.
    Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß ein stämmiger Schwarzer mit fast kahl geschorenem Schädel, der fluchend Soße von seinem Knie wischte. Hinter dem Schwarzen auf der Rückbank ein ebenso stämmiger, aber hellhäutiger Mann, der beim Anblick des Mercedes einen Arm in die Luft riss, und neben dem Hellhäutigen ein etwas älterer Weißhaariger, der nicht weniger erregt, aber etwas entschlossener als die anderen wirkte und eine Pistole durchlud. Adil Bassir.
    Schwer zu sagen, warum sie dort parkten, worauf sie warteten und was sie überhaupt wollten. Vielleicht war es nur einer jener Zufälle, die man in Romanen nicht überstrapazieren sollte und die im richtigen Leben zur Erfindung des Begriffs Schicksal beigetragen haben.
    Eine Sekunde später flog der Pappteller über Bord, und mit aufheulendem V6-Motor rutschte der Spider auf die Piste, driftete seitlich auf eine gegenüberliegende Wand aus Lehmziegeln zu und schoss der Staubwolke hinterher.
    Der Alfa Spider hat eine Spitzengeschwindigkeit von über zweihundert Stundenkilometern, aber in den engen Gassen, auf den schlaglochübersäten Pisten und mit den dichten Staubwolken vor sich fuhr er nicht mehr als sechzig. Der Abstand zum gelben Mercedes wurde größer und verkleinerte sich wieder, Fußgänger spritzten zur Seite, und als sich zwischen den Baracken der Vororte die Staubwolke vor der Kühlerhaube des Spider plötzlich auflöste, war auch der Mercedes verschwunden.
    Der Fahrer machte eine Vollbremsung, raste im Rückwärtsgang zur letzten Kreuzung

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