Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
bunten Schlaghosen und Batik-Oberteilen fuhrwerkten mit den Ellenbogen herum. Ein psychedelischer, schleppender Rhythmus schotterte aus den Boxen, der langsamste, schleppendste Rhythmus, den Carl jemals gehört hatte, ein wie bewusstlos über Blumenkinder, Schmetterlingswiesen und sanfte Hügellandschaften hinwegstampfender, hypnotisierter Dinosaurier. Weiß und strahlend über dem Geschehen öffnete sich ein Himmel aus Scheinwerfersonnen, und genau aus dieser Höhe kam nun die Falsettstimme Marshal Mellows nackt und federlos und krächzend heruntergeflattert, ein kleiner, prähistorischer Vogel, der sich im Nacken des Dinosauriers festkrallte und von ihm herumgeschleudert wurde. Carl fragte sich, ob man ihm etwas in sein Wasser gegossen hatte.
    Er konnte weder dem Text folgen noch die Musik oder die Begeisterung der Masse nachvollziehen. Die entsetzliche Lautstärke löste nichts als Angst in ihm aus, und er versuchte, sich einen Weg aus der Menge zu bahnen. Auf seiner Schulter spürte er Risas Hand. Er schüttelte sie ab. Plötzlich ging ein Ruck durch den Saal. Ein Mädchen mit dünnen, braunen Zöpfen hatte die Bühne geentert oder war hinaufgeworfen worden. Sie trug einen knielangen Rock, ein eng anliegendes, grünes T-Shirt und offenbar keinen BH darunter. «Geeshie, Geeshie!»-Anfeuerungsrufe.
    Marshal Mellow hatte aufgehört zu singen. Das Mädchen trat an den Bühnenrand und starrte eine Minute über die Köpfe des Publikums hinweg. Dann hob sie ihr T-Shirt bis zum Hals hoch, ließ es wieder fallen und verließ die Bühne. Der Saal explodierte. Der Bass überschlug sich. Carl sah zu, dass er hinauskam.
    In dem dunklen Korridor vor dem Ausgang lag ein Mann am Boden. Als Carl über ihn hinwegzusteigen versuchte, krallte er sich mit beiden Händen an Carls Knöchel fest.
    «Lass los.»
    «Was suchst du?»
    «Lass meinen Schuh los.»
    «Du willst zu Geeshie? Hinten anstellen. Ich bin ihr Manager.»
    Mit dem freien Fuß trat Carl nach unten. Dann lief er den Gang entlang und eine Treppe mit zwei Stufen hinauf. Er öffnete eine Tür und stand plötzlich im Getränkelager.
    Der angebliche Manager hatte es mittlerweile geschafft, sich aufzurichten, und versperrte Carl mit ausgebreiteten Armen den Rückweg.
    «Was suchst du?»
    «Den Ausgang. Geh weg.»
    «Du suchst nicht den Ausgang. Du suchst dich selbst.»
    «Was willst du?»
    «Was willst du?»
    «Ich will nur raus hier.»
    «Das wollen wir alle.»
    Als habe eine Windböe ihn getroffen, segelte der Manager zu Boden und klammerte sich noch im Fallen erneut an Carls Bein fest. Carl ging wie eine Schere über ihn hinweg und sah in diesem Moment, dass auf der Schulter und der Brust des Jacketts, das der Mann trug, dunkle Fäden abstanden, wie auf einer Uniformjacke mit abgerissenen Rangabzeichen.
    «Ihr seid nicht wirklich vom Militär, oder?»
    «Komm her, mein schmucker Krieger. Ich bin der Mann, der, wie du weißt, dein Vater ist.»
    Plötzlich flog eine Tür vor Carl auf. Das war der Ausgang. Die Tür schlug wieder zu. Carl hinkte darauf zu, den Manager hinter sich herschleifend, und tastete im Dunkeln nach der Klinke. Da war keine Klinke. Er hämmerte dagegen.
    «Was ist das? Warum ist das zu?»
    «Das ist zu, weil es zu ist», erklärte der Manager feierlich.
    Im Hintergrund verstummte das Wummern, und man hörte nur noch die gedämpfte Stimme Marshal Mellows.
    «Entsetzlich», sagte Carl, während er sich zu befreien versuchte.
    «Goldene Worte», bestätigte der Manager. «Der dümmste, taubste Sänger, den die Welt je gesehen hat. Und ich bin weise. Ich bin Geoffrey Weise. Die Songs sind von mir. Stell mir eine Frage, Freund der Wahrheit.»
    «Warum ist die Tür da zu?»
    «Meine Hand wackelt. Scheiße, meine Hand wackelt.» Der Mann sah entsetzt auf seinen Ellenbogen. «Warum ist die Tür zu?»
    «Die Tür ist zu, weil die Tür zu ist. Und jetzt ist die Tür auf. Denk mal drüber nach.»
    Tatsächlich hatte im selben Moment jemand beide Türflügel aufgestoßen, und Carl rannte auf die Straße hinaus, den Manager im Schlepp.
    «Solang du kein Acid nimmst, weißt du nicht, wer du bist.»
    «Das weiß ich auch so nicht. Lass los.»
    «Nimmst du Acid?»
    «Nein.»
    «Davon rede ich. Lutsch das, Cheri. Lutsch es, lutsch es.»
    Mit hilflos zuckenden Bewegungen, als wolle er einen Lehrfilm über Epileptiker nachspielen, zappelte der Mann über die Straße und versuchte dabei, etwas aus seiner Tasche zu angeln. Das gab Carl endlich die Gelegenheit zur

Weitere Kostenlose Bücher