Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
ausgeglichene Mischung aus Arabern, Amerikanern, Touristen, Halbstarken, Männern und Frauen füllte. Sogar eine Handvoll einheimischer Frauen war dabei. Ein einzelner, dünner Scheinwerfer stocherte durch den Nebel unter der Decke, in der Mitte der Bühne stand ein rechteckiger Mann mit ungeheurer Kinnlade in der Uniform eines amerikanischen Flottenadmirals (wenn Carl sich nicht täuschte), tippte mit dem Zeigefinger ans Mikrophon und begann, mit sehr sanfter Stimme eine Rede zu halten. Er redete, ohne seinen Körper oder auch nur einen Teil des Gesichts zu bewegen. Seine Hände waren um das Mikrophon gewickelt, die Kiefer zusammengepresst. Allein seine Lippen verschoben sich gegeneinander wie bei einer schlecht synchronisierten Zeichentrickfigur. Während Südstaatensingsang den Raum füllte, bestellte Carl an der Bar ein Wasser und atmete einen großen Schwall THC-geschwängerter Luft ein. Hinter sich hörte er vereinzeltes begeistertes Klatschen und spitze Schreie und dazu unentwegt die sanfte Stimme Marshal Mellows, die über Impulskontrolle, vierjährige Kinder, Belohnungsaufschub und Charakter sprach, über den Korea-Krieg, Mord und Totschlag und das Marshmellow-Experiment. Ob die Rede eine Art Propaganda war oder ein Musikstück einleiten sollte, blieb lange unklar. Einerseits schienen die Worte dunkel und unzusammenhängend, andererseits brachten sie die ersten Hippies im Parkett bereits zum Ausrasten. Ein seitlich auf die Bühne gekletterter junger Mann wurde vom Schlagzeuger über die Köpfe des Publikums in die dritte oder vierte Reihe zurückgeschleudert. Frauen kreischten.
    Bass, Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug trugen ebenfalls Uniform (niederes Rangabzeichen), und die rechtwinkligen, muskulösen Gesichter der Männer legten die Vermutung nahe, dass es sich tatsächlich um Angehörige der Streitkräfte handelte. Freilich waren die Zeiten nicht so, dass amerikanische Militärs im Ausland oder auch nur im eigenen Land – und schon gar nicht vor dieser zusammengewürfelten Hippiegemeinde – mit Begeisterungsstürmen oder auch nur zaghaftem Applaus rechnen durften, und Carl überlegte, ob nicht umgekehrt ihre kantigen Physiognomien die Musiker auf die Idee gebracht hatten, sich diese wohl ironisch zu verstehende Bühnenkleidung zuzulegen.
    Das Schlagzeug machte einen kleinen Wirbel, und sofort drängte der ganze Saal nach vorn und riss Carl mit sich. Zwei Frauen standen auf den Lautsprechertürmen; sie drehten sich wie Spielfiguren. Plötzlich spürte Carl, wie sein T-Shirt hinten hochgerissen wurde. Zwei Arme fuhren um seine Taille, und weil er zu lange auf die schönen Frauen vor sich gestarrt hatte, war sein erster Gedanke: Hinter mir steht auch eine schöne Frau. Aber die Bewegung der abwärtstastenden Hände machte ihm rasch klar, dass er sich irrte. Er versuchte, sich im Gedränge umzudrehen. Ein dunkler Schatten tauchte hinter ihm hinab und befingerte ungeniert seine Hosenbeine. Mit beiden Fäusten schlug Carl nach dem Kopf, und langsam tauchte aus dem Dunkel ein schlanker, junger Mann wieder auf. Über sein strahlendes Gesicht liefen drei leuchtende, senkrechte Narben von der Stirn bis zum Kinn.
    «Ich muss doch gucken, ob du keine Claymore in der Hose hast, Mann. Reg dich ab … aber offensichtlich hat dir immer noch keiner eine verkauft.»
    Risa, genannt Khach-Khach. Er schlug Carl auf die Schultern, grinste noch breiter als zuvor und schien sich aufrichtig zu freuen. Im Gekreische um ihn herum verstand Carl nicht jedes Wort. Marshal Mellow war einen Schritt vom Mikrophon zurückgetreten und sah sich nach seinen Mitmusikern um.
    «Soll ich dir was spendieren, Hobbyterrorist? Was machst du denn für ein … wegen der ganzen Sache? Hör zu, ich verkauf dir eine für zwei … aber erst mal das Lied … das Lied … oh, Mann. Geeshie. Mellow ist… aber Geeshie … extra mit dem Boot übergesetzt.»
    Er drehte Carl an der Hüfte zur Bühne um. Seit einer Sekunde herrschte Stille im Saal. Mellow hatte jetzt eine Kippe im Mundwinkel und machte eine Art Schattenboxen am Mikrophonständer vorbei. Die Amerikaner im Publikum riefen Obszönitäten, die Araber beteiligten sich teils ängstlich, teils aufgeregt an den Anfeuerungen in der fremden Sprache. Dann krachte eine Basslinie los, und der Saal sprang auf wie ein Mann. Direkt vor Carl sackte jemand zusammen, Hände auf die Ohren gepresst. Er selbst wurde nach vorn und zur Seite gedrängt. Sein Trinkbecher rutschte ihm aus der Hand. Zwei Schwarze in

Weitere Kostenlose Bücher