Herrndorf, Wolfgang - Sand
Cockcroft mit dem eigenen Schlüssel vergeblich aufzusperren versucht hatte, erkannte er sie wieder.
In den Fenstern brannte kein Licht. Die Tür stand offen. Carl betätigte zuerst die Klingel und tastete dann nach dem Lichtschalter im Flur. Aber das Licht funktionierte nicht, in keinem der Räume. Mit der Taschenlampe durchstöberte Carl das ganze Haus. Alle Möbel waren fort. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Allein im Obergeschoss stand noch der dreibeinige Tisch. Die beiden Bücher waren ebenfalls verschwunden.
Mit einem undefinierbaren Geräusch der Verzweiflung öffnete Carl das Fenster. Er stützte die Ellenbogen auf den Sims und schaute über die Straße hinaus in die Nacht. Die Sterne. Die Menschen, die Häuser, die Praxis. Dr. Cockcroft, Helen, die polnische Maschine. Die Leiche in der Wüste. Er ging ins Zimmer zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Wie schon zuvor hatte er das Gefühl, dass mit Nachdenken etwas zu holen sei, aber immer, wenn er die Fäden zu verknüpfen suchte, verhedderten sie sich sofort in seinen Händen, und dann fuhr ein heftiger Windstoß durch seine Überlegungen, der nicht nur alle Verknüpfungen löste, sondern auch die Fäden selbst in luftige Fernen davonwehte. Zurück blieb nichts als lähmende Dunkelheit, und das Nachdenken darüber war etwa so angenehm, wie mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.
In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeug erlebt als mancher Mensch in siebzig Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben abermals zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcroft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen … und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau.
Es fiel ihm schwer, Worte für seine Emotionen zu finden. Geschweige denn für seinen Zustand. Er wusste nicht, ob er überhaupt etwas empfand. Er drehte sich um und schlug den Kopf gegen die Wand. Halb betäubt trat er erneut ans Fenster und blickte hinaus. In dunklen Ecken standen dunkle Schatten. Einer der Schatten beobachtete ihn. Das kam ihm zumindest so vor. Immerhin. Entweder sein Verfolger oder seine Paranoia war nicht verschwunden. Errichtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Sollten sie ihn doch sehen. Sollten sie sehen, dass sie ihn sehen durften. Sollten sie sehen, dass es ihm egal war. Sollten sie ruhig kommen.
MARSHAL MELLOW
Zwei Vietcongs wurden während eines Fluges nach Saigon vernommen. Der erste weigerte sich, die Fragen zu beantworten, und wurde aus 3000 Fuß aus dem Flugzeug geworfen. Der zweite beantwortete die Fragen sofort, dann wurde auch er hinausgeworfen.
William Blum
Aber niemand kam, und von Müdigkeit überwältigt legte Carl sich schließlich auf den Boden und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm nicht. Ein leise wummerndes Geräusch hielt ihn davon ab. Er schloss das Fenster, aber das Geräusch ging wie ein Herzschlag durch Decken und Wände. Es raubte ihm den letzten Nerv. Schließlich stand er auf, ging hinunter auf die Straße und sah sich um. Er machte ein paar Schritte aufs Sheraton zu, lief dann aber, einem plötzlichen Impuls folgend, den Geräuschen nach. Sie führten ihn zu einem auf der Rückseite von Dr. Cockcrofts Praxis gelegenen Gebäude, über dessen Eingang eine defekte Leuchtreklame hing. Die Wände rechts und links des Eingangs waren über und über mit Plakaten beklebt. Jimi Hendrix, Castles Made of Sand … Africa Unite. Und quer über alles hinweg in hundertfacher Ausführung das druckfrische Bild eines rechteckigen Gesichts mit ungeheuer breiter Kinnlade, um das herum drei kleinere Köpfe und verschiedene Musikinstrumente kreisten wie ein spärlicher Gedankenwirbel.
Marshal Mellow and his Skillet Lickers – Life!
Während Carl das zweifelhafte Englisch las, verstummte der pulsierende Rhythmus, und gedämpfter Jubel erscholl aus dem Innern des Gebäudes. Zwei Beduinen mit Joints in der Hand kurvten an ihm vorbei, dann drängte eine plötzlich aufgetauchte Busladung Touristen hysterisch zum Eingang und riss Carl mit sich fort. Er versuchte kurz, sich aus der Woge von Leibern herauszukämpfen, gab aber auf, als er am Kassentischchen vorbei und in eine dichte Wand aus Trockeneisschwaden gespült worden war.
Nach und nach wurden die Umrisse eines großen Saals erkennbar, den eine für die Gegend ungewöhnlich
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