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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Echo.

    RÄUMLICHE VORSTELLUNGEN
     
    Und verrichte das Gebet an den beiden Tagesenden und in den Stunden der Nacht, die dem Tage näher sind. Wahrlich, die guten Taten tilgen die bösen. Das ist eine Ermahnung für die Nachdenklichen.
    Sure 11,114
     
    Am nächsten Tag war er noch immer am Leben. Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, er wusste nicht, ob er sich darüber freuen solle, aber er spürte keine Erleichterung, als er die Schritte mehrerer Personen hörte. Außer Durst und Schmerz spürte er gar nichts mehr. Ein Stück Kot trieb irgendwo neben ihm im Wasser. Sein Gesicht war mit Schlamm besprenkelt und aufgequollen. Wenn es stimmte, was eine hinter einem Licht verborgene Stimme behauptete, dass sie ihn nur eine Nacht alleingelassen hatten, dann hatte sein Zeitgefühl sich um das Fünf- oder Sechsfache verlangsamt.
    Unter den Lichtern sah er drei Paar Schuhe. Braune Schuhe, braune Schuhe, Frauenschuhe. Niemand mit aufgekrempelten Hosen.
    «Carthage hat leider den Schlüssel mitgenommen. Aber dafür haben wir das hier.»
    Cockcroft hockte sich ans Ufer. Helens Hand hielt einen Bolzenschneider. Ein riesiges, friedliches Schaf geisterte durch den Raum und knabberte Carls Rücken an.
    «Ksch», sagte er.
    «Und ist Ihnen jetzt eingefallen, was Sie sagen wollten? Nein? Wir wickeln nämlich gerade den Posten hier ab, und es könnte jetzt einige Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis wieder ein menschliches Wesen in diese Höhle hinabsteigt. Also, frei von der Leber weg: Wollen Sie uns noch etwas mit auf den Weg geben? Nichts? Finden Sie das komisch? Das ist bedauerlich. Sehr bedauerlich.»
    Cockcroft redete, Helen redete, und dann redete wieder Cockcroft. Aber weitere Fragen zu beantworten fühlte Carl sich nur unter Wasser imstande. Einmal sagten sie, sie würden ihn nun allein lassen. Dann wieder sagten sie, sie würden ihm noch eine Chance geben. Helen legte den Bolzenschneider neben sich auf den Felsen. Er trank ein wenig schlammige Brühe. Unbeweglich saßen die Schemen da und beobachteten ihn.
    «Überleg’s dir.» Helen beugte sich vor und spritzte mit dem Zeigefinger Wasser in seine Richtung.
    «Ich sterbe», sagte er.
    «Du stirbst nicht. Kennst du die Sache mit der Ratte, die man in ein Fass wirft? So was kann sich tagelang hinziehen.»
    «Scheiß auf die Ratte. Scheiße. Scheißratte.» Er versuchte, seinerseits mit Wasser zu spritzen, konnte aber die drei Meter, die ihn von Helen trennten, nicht überbrücken.
    «Du solltest wenigstens so viel Klugheit besitzen, eine letzte Unterhaltung zu einer Bemerkung zu nutzen, die nicht absolut gegenstandslos ist.»
    Er dachte nach und sagte: «Ich finde dich zum Kotzen.»
    Die Schemen erhoben sich. Die Lichtstrahlen der geschwenkten Lampen schoben Schattenfelsen durch den Raum. Schritte. Ziegen. Finsternis. Er wartete.
    Er hatte sich gut eingeprägt, wo der Bolzenschneider liegen geblieben war. Vielleicht dreieinhalb oder vier Meter von seinem ausgestreckten Arm entfernt, auf einem flachen Felsen am Ufer.
    Um sich die Hose auszuziehen, musste er immer wieder untertauchen. Mit beiden Händen schob er sie sich über die Hüfte. Seine linke Hand, an der ihn das Ouz gebissen hatte, schmerzte deutlich stärker als die rechte, durch die Bassir ihm den Brieföffner gestoßen hatte. Schlamm verklebte seine Augen. Er hoffte, dass es Schlamm war.
    Er riss sich den Pullover über den Kopf und knotete einen Ärmel mit einem Hosenbein zusammen. Es war ein mühsames Gezerre, und es mochte damit zusammenhängen, dass sein Geist bereits auf Notstrom lief, oder damit, dass das räumliche Vorstellungsvermögen im Dunkeln noch einmal zusätzlich gelitten hatte, aber er brauchte eine Ewigkeit, um zu begreifen, dass der Pullover auf der Kette fest hing und für seine Zwecke unbrauchbar war. Er knotete die Hose wieder los und zerrte den Pullover hin und her. Er versuchte, ihn der Länge nach zu zerreißen, aber mit seinen Fingern konnte er ihn nicht festhalten. Nebelschwaden tanzten vor seinen Augen. Er schrie, und irgendeine synästhetische Fehlverschaltung verwandelte seine Schreie in Farben. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Also ließ er den Pullover Pullover sein und versuchte es allein mit der Hose.
    Er knotete ein Hosenbein zu, füllte ein paar Handvoll Schlamm hinein und prüfte das Gewicht. Dann maß er die Länge. Er rechnete: etwa dreißig Zentimeter Kette plus eine halbe Schulterbreite plus ein ausgestreckter Arm plus die Länge der Hose, die vielleicht

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