Herrndorf, Wolfgang - Sand
Ellenbogen wechseln musste, wurden die Intervalle nun immer kürzer. Wie ein Mensch, der einen schweren Koffer durch die Stadt trägt und von einer in die andere Hand nimmt und ihn schließlich in keiner mehr halten kann. Er versuchte, die Schulter auf die Eisenstange zu legen, er versuchte, ein Kissen aus Schlamm zusammenzuschieben. Er spannte die Bauchmuskeln an, er spannte die Rückenmuskeln an, und als er merkte, worauf es hinauslief, versuchte er, sich zu ertränken. Rückwärts rollte er in die warme, glucksende Stille hinab. Der Schlamm. Der angehaltene Atem. Der Obsidian über den geschlossenen Lidern. Er sah die Wüste. Er sah eine gelbe Wolke. Er sah eine grüne Fahne. Ein Schluck übel riechender Brühe platzte in seinen Mund, und spuckend und würgend schoss er wieder hoch. Er zerrte an der Kette. Er zerrte an der Stange. Linke Seite, rechte Seite. Untertauchen. Wie bei jeder anstrengenden, eintönigen Tätigkeit konzentrierte er sich nicht darauf, was er machte, sondern wie er es machte. Er begann sich selbst Vorträge zu halten und wurde die Vorstellung nicht los, an einem Katheder stehend vor Hunderten Studenten ein Referat über das Überleben in Schlammlöchern zu halten, wenn das Schicksal (oder seine menschlichen Stellvertreter) einen dort unnachsichtig angepflockt hatte.
Folgendermaßen stütze man sich ab, sprach er, und folgendermaßen nicht. Die Gelenke A, B und C seien in diesen und jenen Winkeln anzuordnen, um bei geringstmöglicher Ermüdung maximale Ausdauerwerte zu erzielen. In logarithmisch verkürzten Intervallen habe sodann ein Wiegen und Schaukeln zu erfolgen, auf welches wiederum das modifizierte Stützen … und so weiter und so fort. Auch der letzte Student hatte sein Cahier geöffnet und schrieb mit. Man befand sich ein wenig im Orchideengarten der Physiologie, aber die Vorlesungen des Professors zum idealen Stützen waren so fesselnd, dass selbst Kollegen sie besuchten. Auch die Dauer der Vorlesung war ungewöhnlich. Sie dauerte Stunden und Tage, Wochen und Monate und viele Semester lang, und immer saß in der hintersten Reihe kaugummikauend eine blonde, großbrüstige Studentin mit eigenartiger Mimik.
In einem seiner klareren Momente fand Carl sich ab mit seinem Tod, und erst dieser Gedanke brachte ihn darauf, dass er nicht allein war in der Finsternis. Sie wussten – mussten wissen –, dass ein Mensch in seiner Lage in kürzester Zeit ertrinken und sein Wissen mit sich nehmen würde. Also war da noch jemand, der ihn beobachtete, belauschte und im Dunkeln seine schützende Hand über ihn hielt. Einer von den vieren. Carl hatte ihre Stimmen und Schritte leiser werden hören, er hatte das Licht verlöschen sehen, aber er hatte nicht darauf geachtet, ob es wirklich die Schritte vierer Personen waren, die davongegangen waren.
Er verhielt sich ganz still, und auch die Gegenseite hielt den Atem an. Doch er war sich ganz sicher. Hinter einem Grabstein aus Nacht ein blondes Lockenbündel.
Er hatte schon hin und wieder vor sich hin geredet, jetzt hob er die Stimme. Er sprach mit seinen Angehörigen, beklagte sein trauriges Schicksal, nahm Abschied von Vater und Mutter und versank mit einem theatralischen Schluchzer. Dramatisches Blubbern unter Wasser. Er schlug mit Armen und Beinen, hörte auf, mit Armen und Beinen zu schlagen, und hob lautlos den Kopf. Und atmete. Es kostete ihn ungeheuer viel Kraft, nicht zu stöhnen, nicht zu schnaufen und sich nicht zu bewegen. Sein Zittern versetzte das Wasser in leise Bewegung. Er hörte das Plätschern und das Echo des Plätscherns und das Echo des Echos. Und sonst nichts. Niemand erschien. Er wiederholte das Experiment noch einige Male und vergaß, dass es ein Experiment war. Er sprach jetzt wirklich mit seinem Vater, und sein Vater legte ihm die Hand in den Nacken und führte ihn einen langen, gekachelten Gang hinunter, in dem es nach Chlor roch. Ein weißes Frotteehandtuch lag zusammengefaltet auf der Heizung. Zwei Mädchen in blauen Badeanzügen standen am Geländer des Sprungturms und sahen ihn mit größtmöglicher Gleichgültigkeit an. Die eine ging in die achte Klasse und war die Liebe seines Lebens. Er spuckte Wasser in die Gegend, kam kurz zur Besinnung und schrie und prustete, er wisse, was sie wissen wollten. Er habe es immer gewusst, und die Kapseln aus dem Kugelschreiber seien ihm nicht gestohlen worden, er trage sie in einem hohlen Zahn bei sich, sie müssten nicht warten bis morgen.
«Bis morgen!», leierte das
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