Herrndorf, Wolfgang - Sand
aus gelben und blauen Arabesken über der Tür, in das mit roten Steinchen die Nummer 581 d eingelassen war. Eine Fotografie dieser Tür, wie sie damals in vielen Zeitschriften zu finden war, hängt über meinem Schreibtisch.
SPASSKI UND MOLESKINE
Mit derlei unwichtigem Hoftratsch, der ebenso nichtssagend war wie die Begebenheit, die wir vorhin erzählt haben, müsste man den Bericht über die vier nächsten Jahre ausfüllen.
Stendhal
Canisades konnte besser mit den Einheimischen. Er stammte aus einer kleinen Stadt im Norden des Landes, seine nach den Unabhängigkeitskriegen zu Verwaltungsbeamten heruntergekommenen Vorfahren gehörten ehemals der Oberschicht an. Wie Polidorio hatte er in Frankreich studiert. Auf dem Pariser Nobelinternat, das er zwei Jahre lang besuchte, gab er an, eine jüdische Mutter zu haben, was nicht stimmte. In Targat behauptete er, Spross einer französischen Industriellenfamilie zu sein, was auch nicht stimmte. Ansonsten war Canisades kein schlechter Mensch. Sein leichter, erfindungsreicher Umgang mit der eigenen Biographie schien ihm ebenso angeboren wie die eleganten Umgangsformen und ein Charme, der in Mitteleuropa schmierig genannt worden wäre und hier die Herzen aufschloss. Er hatte kurz vor Polidorio seinen Dienst in Targat angetreten, aber im Gegensatz zu diesem keine Schwierigkeiten, sich zu akklimatisieren. Nach zwei Wochen kannte ihn die halbe Stadt. In den Kifferspelunken an der Corniche ging er ebenso ein und aus wie in den Villen der amerikanischen Intellektuellen, und er versah seinen Dienst im Übrigen durchaus zufriedenstellend.
Wenig von Erfolg gekrönt waren allein seine Versuche, auch den neuen Kollegen in das Gesellschaftsleben der Stadt einzuführen. Polidorio ließ sich zwar gern zu allerhand überreden, konnte aber mit den Gruppen, zu denen Canisades so eifrig wie unterschiedslos Kontakt aufnahm, nur wenig anfangen. Die Idee, eine Party der High Society einem Abend unter Freunden vorzuziehen, wäre ihm nie gekommen, und wie alle, denen gesellschaftliche Eitelkeit unbekannt ist, hatte Polidorio Mühe, sie sich als Triebfeder in anderen vorzustellen.
Was ihm noch am ehesten zusagte, waren die spätnächtlichen Bordellbesuche. Seitdem Canisades ihm in der langen Nacht der Akten einmal gezeigt hatte, wie die Sache funktionierte, war der Gang ins Hafenviertel für ihn zur lieben Gewohnheit geworden. Wobei schwer zu sagen war, was ihn daran reizte. Die geschlechtliche Befriedigung sicher nicht, dafür fand sie zu selten statt.
Die Frauen, die dort arbeiteten, stammten aus entsetzlichen Verhältnissen, keine von ihnen hatte je eine Schule besucht, und wer annahm, dass sie ihre intellektuellen Defizite durch Einfühlungsvermögen oder körperliches Geschick wettzumachen verstanden, täuschte sich.
Polidorio verachtete sie für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte. Es war eher die Atmosphäre, die ihn anzog, die unmerkliche Verschiebung des Alltags, der Verstoß gegen die Ordnung der Dinge, dem er sich von Berufs wegen eigentlich entgegenstemmen musste, und vor allem diese unerklärliche Aufregung. Er unterhielt sich gern mit den Damen, und es beförderte ihn in einen sonderbaren Zustand, zu wissen, dass er etwas mit ihnen tun konnte, wenn er denn wollte. Unter dieser Aufregung, die sich schon beim Gang ins Hafenviertel zuverlässig einstellte, vermutete Polidorio beständig eine Art Abgrund. Etwas tief Beunruhigendes, ja Dämonisches, das ihm, wie vielen schlichten Gemütern, an sich selbst gut gefiel: Hat meine Persönlichkeit vielleicht noch verborgene Schichten? Untiefen, die mich zu verschlingen drohen? Wobei er mit seiner Idee des Dämonischen nicht weit über das hinauskam, was Frauenzeitschriften von der Psychoanalyse wussten.
Im Gegenzug und auch, um sein Gewissen zu erleichtern, versorgte er seine Favoritinnen mit chemischen Schätzen aus der Asservatenkammer, behördlichen Dokumenten und Razzia-Durchsagen, und obgleich er darin nicht anders verfuhr als jeder andere Polizist, der ins Bordell ging, empfand er auch dies als ein wenig unheimlich, abgründig und verrucht. Indes war das Unheimlichste vielleicht, dass in diesem Abgrund zwei Drittel seines Nettolohns verschwanden. Überflüssig zu erwähnen, dass Polidorios Ehefrau bescheiden lebte und von alledem nichts wusste.
Doch am Abend des Tages, als die beiden Kommissare gemeinsam Amadou verhört
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