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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Ausdauerlauf, das Ertragen körperlicher und seelischer Schmerzen, das Exerzieren in glühender Sonne und das rasche Fortwerfen der kleinen Röcke geübt wurde. Die beiden Schriftsteller waren abwechselnd gut befreundet und vollkommen zerstritten und machten sich in jeder der beiden Phasen gegenseitig ihre Haushaltshilfen in Form zartgliedriger, braungebrannter Knaben abspenstig.
    Ein ebensolcher, bekleidet nur mit einer kurzen, gelben Turnhose, öffnete jetzt das schmiedeeiserne Tor. Der Vorgarten war von Fackeln erleuchtet und verschwamm an den Rändern im Dunkel hoher Bäume. Polidorio hielt sich ängstlich hinter Canisades. Sie betraten eine Halle mit riesigen Treppen, hohe Türen zum Garten hin, Männer in Anzügen, Frauen in Kleidern von Yves Saint Laurent. Dazwischen weitere Turnhosen, die auf silbernen Tabletts Speisen und Getränke servierten. Vom Gastgeber nichts zu sehen.
    Canisades grüßte nach allen Seiten, Polidorio lief mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm her. Da es keine offizielle Vorstellung oder andere altmodische Höflichkeiten gab, war man immer gezwungen zu raten, ob man gerade einem hohen Ministerialbeamten, einem mittellosen Intellektuellen oder einem dahergelaufenen Perversen gegenüberstand. Für jemanden wie Polidorio, dem Hierarchien noch etwas bedeuteten, war das ungeheuer anstrengend.
    Das Buffet bestand aus Speisen, die er noch nie gesehen und deren Namen er noch nie gehört hatte. An den Wänden hingen Bilder in einem ungegenständlichen Stil, auf dem Boden um die Bar waren Sägespäne ausgestreut, und zwischen den Beinen der Anwesenden wieselte ein kleines, pelziges Tier mit goldenem Halsband herum, von dem Polidorio beim besten Willen nicht sagen konnte, ob es sich um einen kleinen Hund, eine große Ratte oder noch ganz etwas anderes handelte.
    Canisades hatte sich sofort zu ein paar alten Bekannten gesellt. Polidorio stellte sich halbherzig dazu, beteiligte sich aber nicht am Gespräch. Er hatte einer der Turnhosen ein Sektglas abgenommen, und seine Aufmerksamkeit wurde gefesselt von einer ganz in Weiß gekleideten Frau, die ein wenig weiter weg stand. Sehr schlank, sehr blond, große Brüste, aber irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Ihre Mimik wirkte sonderbar verrutscht. Um sie herum stand eine Handvoll amerikanischer Offiziere, die ihr aufmerksam zuhörten und ein wenig zu eifrig über jeden ihrer schleppend vorgetragenen Sätze lachten.
    «Mein Kollege Polidorio», sagte Canisades, und eine von Altersflecken übersäte Hand streckte sich dem erschrockenen Kommissar entgegen.
    «Angenehm, sehr angenehm! Ich wünschte, mein Leben wäre so aufregend wie Ihres. Warum erscheinen Sie eigentlich nie in Ihrer schmucken Uniform? Haben Sie Angst, mein Haus zu einem verrufenen Ort zu machen?»
    Polidorio, der die einleitenden Sätze verpasst hatte, schüttelte schüchtern den Kopf. Der Altersfleckige war offenbar Spasski. Ein großer, kahlköpfiger Mann. Ein einnehmendes Wesen konnte man ihm immerhin nicht absprechen. Während Polidorio noch geschmeichelt versuchte, sich eine respektvolle Antwort zurechtzulegen («Habe Ihr letztes Buch gelesen», «Diese Party ist so aufregend wie gute Literatur», «Ich wünschte, mein Leben wäre so aufregend wie Ihre Bücher»), hatte Spasski sich schon einem anderen zugewandt und redete nun überaus einnehmend auf diesen ein.
    Canisades führte seinen Kollegen anschließend noch bei zwei, drei anderen Gruppen ein, aber Polidorio hatte rasch das Gefühl, seinen Freund von dem Klotz am Bein, der er selber war, befreien zu müssen. Er schlenderte ins Haus und zurück in den Garten, stellte sich hierhin und dorthin, um geschäftig zu wirken, und blieb doch ohne Anschluss. Überall waren die Gespräche in vollem Gange. Das ihm sonst von Gesellschaften so vertraute peinliche Schweigen, gelegentliche und gar nicht so unsympathische Unbeholfenheiten in der Kommunikation, nachdenkliche Pausen zwischen Fragen und Antworten gab es nicht. Alles redete rasend schnell durcheinander. Wenn er hinzutrat, wurde er nicht bemerkt, mitunter sehr ostentativ nicht bemerkt, und wenn er selbst einmal einen Satz einwarf zu Themen, von denen er etwas zu verstehen glaubte, wandte man sich ihm mit so verletzender Höflichkeit zu, dass er sofort den Faden verlor. Die Gesellschaft war eine einzige, unklare Demütigung.
    Den ganzen Abend wanderte er verloren umher und mied nur die Gruppe mit der blonden Frau, die ihm ein wenig unheimlich war. Er wurde immer

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