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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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hatte einen Blick das ganze Küstengebirge hinunter. Mondbeschienene Wellenkämme wanderten glitzernd auf einen unsichtbaren Strand zu. Eine Gruppe um Moleskine blätterte in einem Jugendwerk Spasskis wie ausgelassene Teenager in einem FKK-Katalog, in gelber Turnhose lief ein betrunkener Fünfzehnjähriger mit einer riesigen Infusionsspritze hinter Polidorio her und erlaubte sich mehr als einmal den Scherz, so zu tun, als wolle er sie ihm (und anderen Gästen) ins Gesäß rammen.
    Irgendwann stand Polidorio dann neben dem jungen Diplomaten, der von osteuropäischer Seite bereits als zukünftiger Präsident des Vereinigten Afrika gehandelt wurde. Blitzend weiße Zähne im schwarzen Gesicht, heller Anzug, überaus gewinnendes Lächeln. Er war tatsächlich ungeheuer schnell im Kopf, wie Polidorio mit den Resten seiner betrunkenen Wahrnehmung feststellen konnte, er hatte Humor, er war geistreich. Aber was nützte es ihm? Er war immer noch ein Schwarzer. Schon nach der ersten Hypotaxe konnte Polidorio ihm nicht mehr folgen.
    Als der zittrige Gastgeber von zwei Lakaien gestützt auf einen Klappstuhl im Garten stieg, verstummten alle Gespräche. Die Lakaien blieben vorsorglich neben dem Stuhl stehen, aber Spasski scheuchte sie mit herrischer Geste weg. In Erwartung einer bedeutenden Darbietung drängte die Menge hinzu, von irgendwoher erklang spontaner Vorabbeifall, und auch Polidorio, der wusste, wie viel Canisades die Bekanntschaft dieser amerikanischen Künstler bedeutete, näherte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Als nur noch das leise Klirren der Eiswürfel in den Gläsern zu hören war, hob Spasski die Stimme. Brüchig, monoton, ein wenig säuselnd, aber auf ihre eigene Weise auch durchdringend, sodass auch in den entferntesten Winkeln des Gartens niemand Mühe hatte, seinen Worten zu folgen.
    «Es gilt als tugendhaft, weitsichtig zu sein!», begann Spasski und machte eine Pause, als warte er, bis auch die Eiswürfel sich beruhigt hätten. «Als eine nur dem Menschen, nicht den Tieren gegebene Fähigkeit, um die Zukunft sich zu sorgen, Vorsorge zu treffen. Doch ist der aus dieser Sorge entstehende Menschenschlag exakt der greisenhafte, europäisch-amerikanische Typus, vor dem wir geflohen sind in ein unbesorgteres Afrika, in eine Gesellschaft, in ein Denken, ein Wesen, das noch in der Blüte seiner Jugend steht. Auf diese Blüte möchte ich trinken. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Niemals darf eine trübe Zukunft die strahlende Gegenwart verdunkeln. Richten Sie Ihren Blick nach oben.» Er schaute selbst mit großem Pathos in die Nacht hinauf. Nur wenige Partygäste folgten seinem Beispiel, die meisten blieben mit ihren Blicken an der großen Geste hängen, einem greisenhaft dürren Arm, der vor dem Sternenhimmel zitterte. «Wer ist unter euch, der nicht im Moment des Todes sein Leben für den Preis des größten Teils der Menschheit zurückkaufen würde? Diderot. Wenn ich wählen müsste zwischen der Schönheit des Augenblicks und dem Fortbestehen der Menschheit – ich will dazu einmal Folgendes erklären. Wenn in den nächsten zehn Jahren hier die Lichter ausgehen, wie meine Freunde des römischen Clubs mir wöchentlich über die Zeitung mitzuteilen nicht müde werden; was ist das, philosophisch gesprochen? Wir können neun Zehntel der Menschheit wegstreichen und dann vom Rest noch einmal neun Zehntel, und es bleibt immer noch ein Abschaum. Entrüstung ist nicht notwendig. Nein, wir wissen das. Neun Zehntel. Und doch kann nichts in der Welt uns davon abhalten, dem Turiner Kutschpferd schluchzend um den Hals zu fallen. Denn wir sind Menschen. Und das ist es, und ich meine das so pathetisch, liebe Freunde, wie ich es sage, und wer mich kennt, der weiß es. Reden wir nicht herum. Befreien wir uns vom Dünkel der Aufklärung! Licht gehört nicht in jede Finsternis. Wir alle kennen das Gefühl, das man empfindet. Da wirft man ein paar Kupfermünzen nach einem verhungernden Kind und sieht ein Leuchten der Dankbarkeit in kohlenschwarzen Augen, das strahlender ist als alle Sternenhimmel und jedes Utopia, das Philosophen ersinnen, und dieses Gefühl ist es, ich betone, dieses Gefühl, diese Scham, dieses Elend, der schlecht verhüllte Überlegenheitsaffekt – und nicht die Vernunft –, das können Sie mir glauben. Die Menschheit! Die Menschheit. Mr. Wallich hat vollkommen recht, das Gerede von den Grenzen des Wachstums einen Haufen unverantwortlichen Unsinns zu nennen. Wir werden auch im Jahr 1980 noch

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