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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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ein Geheimnis, wie der Schatten eines Schattens.
    Lundgren lächelte versonnen in sich hinein. Und dann plötzlich, am Nachmittag des zweiten Tages: die Katastrophe. Von irgendwoher hatte der zahnlose Alte auf einmal ein kleines, elektronisches Gerät. Er suchte es in der Hand zu verbergen, aber Lundgren sah es aus den Augenwinkeln. Ein winziges Blinken in der Sonne. Der Araber bewegte das schwarze Kästchen auf sein Ohr zu, im selben Moment kam ein Jeep die Straße hinuntergefahren – und das war das Signal. Lundgren sprang auf. Er rannte ins Café, flüchtete auf die Toilette. Hielt sich am Waschbeckenrand fest und überredete sein Spiegelbild zur Besonnenheit. Dann Stimmen. Dann Schritte: Lundgren hechtete durch das Fenster. 42 Grad im Schatten. Er nahm eine Mauer im Sprung (110 Meter Hürden in 14,9 Sekunden, schwedischer Landesrekord der Junioren), bog zwischen aufgeschreckten Hühnern zweimal links ab und erreichte fliegend die Hauptstraße, an der das Café lag. Betastete die in der Achselhöhle verborgene Waffe. Legte den Sicherungshebel um. Dachte an seine Frau und spähte um die Ecke.
    Durch sonnenflirrende Luft sah er das kleine Café, sah seinen Notizblock, seinen Sonnenhut und seinen Malztee allein auf dem Tischchen vor der Veranda. Davor ein leerer Stuhl. Lundgrenförmige Luft hatte seinen Platz eingenommen. Auf der anderen Straßenseite vor dem grünen Haus unbeweglich der Araber, an seinem Ohr ein Transistorradio. Musik, leiernder Gesang. Der Jeep war vorübergefahren. Alles an Lundgren flatterte. Die zwölfjährige Schönheitskönigin winkte ihm freundlich-erstaunt. Lundgren trottete zurück an sein Tischchen wie ein schwitzender Käse. Sie lächelte. Er sah sie nicht an. Sie drückte ihre unterentwickelten Brüste nach vorn. Er blockte. Erst Auftrag durchführen, dann Mädchen flachlegen. Alte Regel.
    Am Nachmittag begann die Straße vor dem Café sich zu beleben. Männer schoben sich Richtung Zentrum, da schien was los zu sein. Unverständliche Rufe, immer dasselbe Wort. Lundgren beobachtete es mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wenige Stunden später wogte die Masse zurück. Dasselbe Gerufe.
    Am dritten Tag gab Lundgren dem zahnlosen Alten morgens ein Bakschisch, damit er sich woanders hinsetzte. Der Alte nahm das Geld und blieb sitzen. Am vierten Tag grüßte Lundgren mit den Worten: «Heute schon dein Schaf gefickt?», und der Araber hielt nur noch die Hand hin. Ein weißer Lichtstrahl schien vom Himmel herunter, und Lundgren spendete ein noch größeres Bakschisch und lachte und strahlte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören mit Strahlen und merkte mit dem Rest Vernunft, der ihm verblieben war, dass irgendetwas in seinem Innern, vielleicht sein Gehirn, vielleicht die Diarrhö, vielleicht der Anblick der mannbaren Negerprinzessin, ihn mit gefährlicher Euphorie vollpumpte. Euphorie war kontraproduktiv, Euphorie war verboten. Er wusste das. Er wusste alles. Er war Lundgren.

    REVISION
     
    Wer nicht weiß, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Ziel.
    Sprichwort der Fulbe
     
    Am nächsten lag ließ Polidorio sich noch einmal die Akte bringen, ein von einem Faden zusammengehaltenes, schmales Papierbündel, und breitete ihren Inhalt vor sich auf dem Schreibtisch aus. Obenauf die Protokolle der Vernehmungen Amadous, die im Zentralkommissariat durchgeführt worden waren; Polidorio überflog sie nur kurz. Er war bei zweien selbst dabei gewesen und wusste, dass Amadou an seinen Angaben festgehalten hatte. Das letzte Protokoll bestand aus einem einzigen Satz: Aussage siehe Vortag.
    Der Rest der Akte war ungeordnet. Polidorio suchte zuerst die Augenzeugenberichte. Sie waren zum größten Teil mit der Maschine geschrieben, zum Teil aber auch handschriftlich, mit unverständlichen Abkürzungen und stenographischen Einsprengseln abgefasst. Auf fast allen maschinengeschriebenen fehlte der Name des Befragers, mitunter auch das Datum. Es war anzunehmen, dass Karimi die Berichte angefertigt hatte. Canisades war nur kurz nach Amadous Festnahme einmal in Tindirma gewesen, Polidorio überhaupt noch nicht. Eine Häufung einfältiger Wendungen («des Weiteren gab er zu Protokoll», «äußerte der Zeuge entrüstet») deutete allerdings daraufhin, dass jemand Beschränkteres als Karimi die Aussagen abgetippt oder bearbeitet hatte. Zwischen den Papieren fanden sich Tatortbeschreibungen, Lageskizzen und Zeitpläne. Aber auch Hotelrechnungen, unentzifferbare Kritzeleien, eine Anweisung des Innenministeriums

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