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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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von Telegraphenmasten, die wahrscheinlich die Piste nach Tindirma markierte. Sonst nur Sand. Er trank einen Teil des Wassers, schüttete sich den Rest über den Kopf und rutschte wieder zu seinem Auto hinab.
    Eine Dreiviertelstunde war er bereits auf der Piste unterwegs, als er am Horizont etwas Eigenartiges bemerkte. Eine kleine, gelbe, schmutzige Wolke, die sich langsam ausdehnte. Er beobachtete sie genau. Nach ein paar Minuten nahm sie bereits die ganze Breite des Horizonts ein. Er hatte so etwas noch nie gesehen und wusste doch sofort, was es war. Oben an den Dünen flatterten schon kleine Fahnen aus Sand. Der Wind nahm rasch an Stärke zu, der Himmel färbte sich dunkelbraun. Schließlich wurde es einen Moment windstill. Dann bekam das Auto einen Schlag, der es fast von der Piste schob. Polidorio machte eine Vollbremsung. Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube erkennen. Es war ein Prasseln und Knistern, als ob der Wagen in Flammen stünde. Fast eine Stunde lang saß Polidorio fest.
    Während er wartete, fiel ihm ein, dass hier in der Gegend irgendwo Amadou verhaftet worden war, kurz nachdem er die vier Morde begangen hatte. Oder auch nicht begangen hatte. Der Gedanke drängte sich auf, dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch vier Menschenleben oder das Leben der ganzen Menschheit. Polidorio wusste nicht genau, wie er auf diesen Gedanken kam. In seinem Büro sitzend wäre ihm dergleichen nicht nur nicht philosophisch, sondern läppisch erschienen. Mit schweißnassen Fingern stellte er das Radio an. Kein Empfang. Die Wüste flog waagerecht an ihm vorbei. Als schemenhaft wieder die Piste erkennbar war, versuchte Polidorio, weiterzufahren, aber die Räder drehten durch. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür. Eine Eimerladung Sand flog in den Wagen, er schloss die Tür wieder.
    Als sich der Wind so weit gelegt hatte, dass man gefahrlos aussteigen konnte, schmiegten sich breite Sandhaufen aerodynamisch an die Form der Karosserie. Ein paar Meter vor dem Wagen stand jetzt ein Schild, das dort vorher nicht gestanden hatte. Es schaute mit der Spitze aus einer mannshohen Düne, war dreieckig und verrostet und die Aufschrift kaum leserlich. 102 … Rest unentzifferbar.
    Der Himmel änderte die Farbe zu lichtem Ocker. Polidorio arbeitete mit Händen und Unterarmen, um den Sandhaufen am Heck abzutragen, und versuchte das Auto mit unter die Räder gelegten Sandblechen zum Weiterfahren zu bewegen. Er brauchte fast eine halbe Stunde dafür, dann noch mal eine weitere Stunde, um nach Tindirma zu gelangen, und dort noch einmal ungefähr zehn Minuten im Gespräch mit den Mitgliedern der Kommune, um herauszufinden, dass sie glaubwürdig waren. Dass sie die Wahrheit ausgesagt hatten. Und dass das Verbrechen sich nicht anders abgespielt haben konnte als in den Protokollen verzeichnet. Einhundertzwei.

    BEI DER ARBEIT
     
    Alert! Alert! Look well at the rainbow. The fish will rise very soon. Chico is in the house. The sky is blue. Place notice in the tree. The tree is green and brown. The fish will not take much time to rise. The fish is red.
    E. Howard Hunt
     
    Dem Kamel war ein Bein hochgebunden. Auf drei Stelzen schaukelte es zwischen den schmächtigen Männern herum, die ihm ins Maul und auf die Hufe starrten. Lundgren überlegte, wie viele Beine man dem Kamel noch hochbinden konnte, ohne dass es umfiel. Eins war möglich, zwei schwierig, bei drei war vermutlich Feierabend. Physik war nicht seine Leidenschaft, wie gesagt, aber es war auch nicht so, dass sie ihn gar nicht interessiert hätte. Lundgren war ein von Natur aus neugieriger Mensch, ein wissensdurstiger Mensch, undogmatisch und weltoffen, ohne gleich im Sumpf des Liberalismus zu versinken. Er konnte zuhören, er hatte ein ans Unheimliche grenzendes Gespür dafür, was in anderen vorging, eine feine Beobachtungsgabe. Schon immer gehabt. Die Mädchen an seiner Schule hatten es als Erste zu spüren bekommen. Sie mochten ihn. Die Jungen mochten ihn auch, wenn sie nicht gerade eifersüchtig waren wegen der Mädchen. Lundgren, strahlender Mittelpunkt des Moreno-Soziogramms. El Lobo. Und er war der kollegiale Typ. Vater Sozialdemokrat. Wenn der Lehrer sich bei der Klassenarbeit umdrehte, hielt Lundgren das Heft hoch, damit alle es sehen konnten. Auch in Physik, auch in Biologie. Lundgren.

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