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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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(ein Zeuge), habe Goldstaub in die Menge geworfen, um einen Tumult auszulösen (zwei Zeugen), sei erkennbar betrunken gewesen (vier Zeugen) und habe beim Verlassen des Hauses die Arme in die Luft gehoben und mit ergreifenden Worten den Beistand des alleinigen Gottes erfleht (ein Zeuge).
    Die Untersuchung des Tatorts: ein paar Patronenhülsen, ein leeres Magazin. Zwei Kugeln steckten in der Wand, eine in der Decke zwischen erstem und zweitem Stock. Die vier Opfer waren von jeweils mehreren Kugeln getroffen, alle Einschüsse aus nächster Nähe, einer in den Rücken, die anderen frontal. Wenig Zweifel an der Todesursache. Nicht der Hauch eines anderen Verdächtigen. Unterschrift Karimi.
    Außer dass die Opfer Europäer waren, war an dem Fall nichts Besonderes.
    Polidorio knüpfte die Akte wieder zusammen, schaute sich lange die Notizen an, die er gemacht hatte, und ging dann zum Chef und ließ sich zwei Tage freigeben. Er behauptete, mit seiner unlängst eingetroffenen Familie ein wenig Zeit verbringen zu wollen, schrieb einen Zettel für Asiz, er solle die Fingerabdrücke auf der Waffe überprüfen, und setzte sich ins Auto.

    CHAMSIN
     
    Strömen zwei Medien unterschiedlicher Dichte aneinander vorbei, ergibt sich eine wellenförmige Begrenzungsfläche.
    Helmholtz ‘sches Gesetz
     
    Es gab zwei Wege zur Piste nach Tindirma. Der kürzere führte in schräger Linie durch Salzviertel und Wüste direkt darauf zu, der andere umging die Elendsquartiere in einer kilometerlangen Schleife im Norden, um knapp vor den Bergen in rechtem Winkel auf die Piste abzuzweigen. Polidorio kannte beide Wege nicht, entschied sich für den kürzeren und hatte sich nach fünf Minuten im Salzviertel verfahren.
    Wie um jede andere größere Stadt hatte sich um Targat ein Gürtel aus Bidonvilles gelegt, und die Bereitschaft der Verwaltung, die erbärmlichen Hütten hin und wieder mit Bulldozern die Berghänge hinabzuschieben, schien den gleichen Effekt zu haben wie das sorgfältige Beschneiden einer Pflanze. Nach jeder Säuberungswelle wucherte das Dickicht undurchdringlicher, Straßen und Wege versickerten darin. Wellblech, Kanister, Schutt. Alles, einschließlich der Wege, schien aus Müll zu sein und aus ihm zu wachsen. Mitten auf der breitesten Straße taten sich auf einmal tiefe Löcher auf, in denen Familien lebten. Einige waren mit Plastikfolie bedeckt und mit einer Krone aus Steinen verziert. Als Polidorio in einer Sackgasse zu wenden versuchte, kamen barfüßige Kinder gelaufen und drückten ihre schmutzigen Handteller aufs Beifahrerfenster. Ein Mädchen auf zwei Krücken versperrte den Weg. Andere stellten sich dazu, im Nu schloss eine Menschenmenge das Auto zähflüssig ein. Krüppel, Halbwüchsige, verschleierte Frauen. Sie schrien und rissen an den verriegelten Türen.
    Polidorio versuchte, niemandem in die Augen zu sehen. Er hielt mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und drückte den Wagen albtraumhaft langsam durch die Menge. Fäuste schlugen aufs Dach. Als sich vor dem Kühler eine kleine Lücke auftat, gab er Gas und entwischte in die nächste Seitengasse. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass diese Gasse lang, gerade und menschenleer war. In der Ferne erkannte er zwischen den Baracken die ersten Ausläufer der Wüste.
    Er wollte sich gerade entspannt zurücklehnen, als ein Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Es schien aus dem Innern des Autos zu kommen. Blick in den Rückspiegel: drei grinsende Kinder. Sie standen auf der hinteren Stoßstange, die Finger oben in die Regenleiste gekrallt. Das mittlere Kind hatte nur eine Hand am Dach und hielt in der anderen eine Sichel, mit der es gegen die Heckscheibe pickte. Der Tacho zeigte 45 Stundenkilometer. Polidorio ging sofort vom Gas. Zwei blinde Passagiere sprangen ab, aber nicht das Kind mit der Sichel.
    In der Sandwüste fuhr er leichte Schlangenlinien, und das Picken hörte auf. Das Kind trug die Sichel jetzt quer im Mund und krallte sich mit beiden Händen an der Regenleiste fest. Einen Kilometer hinter den Baracken und Hütten sprang der Junge endlich ab. Im Rückspiegel sah Polidorio ihn mit seinem Werkzeug zwischen den Dünen davontaumeln.
    Er ließ den Wagen ausrollen. Der Schweiß war ihm bis in die Schuhe gelaufen. Aus dem Kofferraum holte er eine Flasche Wasser. Die Flasche in der rechten Hand, mit der linken wild in der Luft rudernd, erstieg er die größte Düne der Umgebung und sah sich um. Schräg voraus erspähte er eine in Ost-West-Richtung verlaufende Reihe

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