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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Dachboden. Es war okay. Das sagte er jedenfalls zu sich selbst, während er ruhig zu atmen versuchte: Es ist okay, es ist okay, es ist okay.
    Durch die fensterähnliche Öffnung an der Stirnseite spähte er hinaus. Dahinter ging es fünf oder sechs Meter in die Tiefe. Er stand im Giebelfenster einer riesigen Scheune. Unten lagen Steine. Links neben der Scheune sah er eine kleine Baracke, auf dem Dach zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Dahinter Wüste bis zum Horizont.
    Keine Treppe. Keine Leiter.
    Er schwitzte.
    «Mein Name ist», sagte er plötzlich laut. «Mein Name ist. Mein Name ist.» Beim letzten s-Laut ließ er die Zunge an den Zähnen liegen, um einen Automatismus in Gang zu setzen, aber weder Zunge noch Lippen wussten, was sie zu tun hatten.
    Irgendwie musste er nach unten gelangen. Die einzige Verbindung zum Erdgeschoss schien die etwa drei mal drei Meter große Luke zu sein, durch die der Flaschenzug nach unten hing. Das Erdgeschoss darunter lag in tiefer Finsternis. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und glaubte dann, in der Tiefe unter der Luke eine Art Gang erkennen zu können. Von dem Gang zweigten zu beiden Seiten etwas hellere Streifen ab. Er nahm an, dass es kleine Stellwände waren, die den Raum in Nischen oder Stallungen unterteilten. Die Höhe der Stellwände war schwer zu schätzen, so wie auch die Entfernung zum Boden schwer zu schätzen war. Die Dunkelheit schien so etwas wie eine optische Täuschung zu bewirken, die den Erdboden näher oder ferner erscheinen ließ. Was von beidem, wusste er allerdings nicht. Aber die Vermutung lag nahe, dass es hier genauso tief hinabging wie an der Außenwand der Scheune, fünf oder sechs Meter. Mit dem Fuß schob er ein wenig Sand über den Rand der Luke, hörte eine Sekunde nichts, dann ein Prasseln in der Dunkelheit.
    Vom Flaschenzug lief eine ölige Kette über große Rollen zu einem Stützbalken, wo sie an einem Nagel festgehakt war. Er machte die Kette los, ließ den schweren Flaschenzug ein wenig auf- und abfahren und hakte ihn wieder ein.
    An der öligen Kette fünf oder sechs Meter hinunterzuklettern, traute er sich nicht zu. Lange betrachtete er den Dachboden, die Luke und den Flaschenzug und fragte sich zum ersten Mal, wie er überhaupt hier heraufgekommen war. Mit diesem Flaschenzug? Dann musste ihn hier oben jemand losgehakt, in die Ecke geschleift und anschließend selbst wieder einen Weg nach unten gefunden haben.
    Wahrscheinlich hatten sie eine Leiter gehabt und sie nachher weggezogen. Vielleicht war er auch selbst auf den Dachboden gestiegen, und sie hatten ihm hier oben den Schädel eingeschlagen. Oder: Sie hatten ihm unten den Schädel eingeschlagen, er war mit letzter Kraft auf den Dachboden geflüchtet, hatte die Leiter nachgezogen und erst dann das Bewusstsein verloren.
    Er sah sich im Halbdunkel um, konnte aber keine Leiter entdecken und auch sonst nichts, was hilfreich gewesen wäre. Kein Seil. Nur Gerümpel.
    «Mein Name ist», sagte er. «Mein Name ist.»
    Ob es möglich war, ein Gegengewicht an der Kette zu befestigen, um selbst am Flaschenzug hängend sanft zur Erde zu gleiten? Er versuchte sich der physikalischen Gesetze zu entsinnen. Kraft mal Kraftweg, Last mal Lastweg. Aber wie lang war der Lastweg? Es gab zwei Rollen, die Kette lief von oben kommend einmal um die untere Rolle, dann in einer Schlaufe um die obere Rolle. Also dreifacher- nein, doppelter Weg. Er brauchte ein Gegengewicht, das halb so schwer war wie er selbst. Oder ein Viertel? Sein Herz raste. Nachdem er eine Minute auf die Apparatur gestarrt hatte, war er nicht einmal mehr sicher, an welchem Ende die größere Last zu hängen hatte. Und selbst wenn er die korrekte Rechnung aufmachte: Woher sollte er wissen, wie schwer ein Gewicht im Verhältnis zu ihm selbst war? Wenn er ein zu leichtes Gewicht nahm, würde er auf dem Weg nach unten zu rasch beschleunigen. War es zu schwer, würde es ihn unter den Dachbalken hochziehen.
    Er begann, den Dachboden noch einmal genauer zu untersuchen. Die Apparaturen auf den Tischen, Kupferkessel und Rohre. Ein Metallbottich stand auf einem aus Ziegelsteinen aufgeschichteten Ofen. Offenbar diente der überall herumliegende Sand als Feuerschutz. Er roch an zwei Plastikflaschen, die eine klare Flüssigkeit enthielten. Der stechende Geruch hochprozentigen Alkohols.
    Die Tische machten einen schweren und massiven Eindruck. Er hätte sie vorsichtig durch die Luke stoßen können in der Hoffnung, dass sie

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