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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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sich unten zu einem Podest stapelten. Als er sich an einem der Tische zu schaffen machte, fiel dahinter etwas um, und unter Sand, Staub und Gerümpel begraben wurden Sprossen einer Leiter sichtbar. Also doch.
    Er legte die Leiter frei, maß ihre Länge (fünfeinhalb große Schritte) und kam zu dem Ergebnis, dass sie, wenn überhaupt, nur mit äußerster Not vom Dachboden bis zur Erde reichte. Keuchend hob er sie in der Mitte an und drehte sich dann langsam wie ein Sekundenzeiger zur Bodenluke herum. Mit dem hinteren Ende blieb sie an dem Stützbalken hängen, an dem die Kette des Flaschenzugs festgehakt war. Die Kette löste sich vom Nagel, und der Flaschenzug setzte sich langsam in Bewegung. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, sah er versteinert zu, wie die Apparatur gravitätisch in die Tiefe fuhr und mit einem dumpfen Laut unten aufschlug. Höhnisch rasselnd folgte die Kette, die sich über die obere Rolle abspulte und klirrend aus dem Bild verschwand. Mit etwas mehr Geistesgegenwart hätte er sie aufhalten können. Und wenn er sofort die Leiter fallen gelassen hätte. Aber jetzt, wo er die Leiter hatte, schien ihm der Abgang des Flaschenzugs verschmerzbar. Was ihm viel größere Sorgen bereitete, war der Lärm. Er rührte sich nicht und hielt den Atem an. Aber es blieb still.
    Vorsichtig versuchte er die Leiter über den Rand der Luke zu schieben. Als sie zu etwas über der Hälfte über dem Abgrund hing, machten sich die Hebelgesetze bemerkbar. Er konnte das kürzere Ende nicht mehr am Boden halten und musste die Leiter zurückziehen.
    Senkrecht hinablassen ging auch nicht. Dazu war die Decke zu niedrig. Nach zwei weiteren hilflosen Versuchen schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, die Leiter mit Schwung in den Abgrund zu schicken und zu hoffen, dass sie einigermaßen gerade unten aufkam. Sofern seine Schätzungen stimmten, durfte sie nur um ein paar Grad vom Lot abweichen, wenn sie bis zum Rand der Luke reichen sollte. Wenn sie ihn überhaupt erreichte.
    Wie ein Tier im Laborversuch, das den Werkzeuggebrauch einübt, balancierte er die Leiter am Kipppunkt hin und her. Versuch und Irrtum, Geist gegen Materie – und plötzlich entwickelte die Materie ein Eigenleben. Er hatte den Schwerpunkt etwas zu weit vorgeschoben, da beschleunigte sich die Leiter und riss ihn vornüber. Verzweifelt klammerte er sich an die letzte Sprosse.
    Er schlug mit ungeheurer Wucht auf den Bauch, rutschte gefährlich weit über die Kante und blieb nur hängen, weil sein rechter Fuß sich irgendwo hinten an einem Gegenstand verhakt hatte, wahrscheinlich ein Tischbein. Er bekam keine Luft mehr.
    Sein rechter Arm und ein bedenklicher Teil des Oberkörpers hingen über dem Abgrund. Die rechte Hand: ein einziger Schmerz. Das Schultergelenk: ein noch größerer Schmerz. Aber mit letzter Kraft hielt er einhändig die Leiter fest, die unter ihm in der Finsternis, wie er fühlte, als riesiges Pendel langsam hin- und herschwang. Blut lief über die Finger seiner rechten Hand. Die Haut war gerissen. Er stöhnte, rutschte kopfüber noch ein paar Zentimeter weiter in den Abgrund, und das Pendel schrammte über den Erdboden und blieb stehen. Er wackelte die Leiter genau senkrecht hin.
    Da stand sie jetzt. Von der obersten Spitze des Holms bis zur Unterkante des Dachbodens fehlten etwa vierzig Zentimeter. Er griff mit der linken Hand auf den Holm um, wedelte die schmerzende rechte durch die Luft und atmete tief durch.
    Andererseits, wenn diese Leiter zu kurz war, was sollte er dann überhaupt mit ihr? Er konnte sie genauso gut loslassen. Es war offensichtlich nicht die Leiter, mit der er heraufgestiegen war. Es musste noch eine zweite Leiter geben, die ein anderer nach unten weggezogen hatte … Er erstarrte vor Angst. Was, wenn der andere wieder nach unten geklettert war? Was, wenn er sich hier irgendwo verbarg? Er hatte nicht jeden Winkel des Dachbodens untersucht. Er sah sich verzweifelt um, rollte den Kopf hin und her und blieb mit dem Blick an dem Fenster auf der Stirnseite hängen. Und plötzlich fiel es ihm ein: dort.
    Wenn er die Leiter durch das Fenster geschoben hätte, wäre sie an der Außenwand stehen geblieben. Vielleicht war er sogar dort hineingekommen. Entschlossen versuchte er, sie an der obersten Sprosse wieder zu sich hochzuziehen. Er konnte sie gerade eben anheben, und die Anstrengung presste ihm die Luft aus den Lungen. Aber beim Versuch, auf die zweite Sprosse umzugreifen, kam sein Körper ins Rutschen. Schnell stieß

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