Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
Jacketts sauber zu wischen.
    «Lassen Sie das. Nehmen Sie das.»
    «Was?»
    «Lassen Sie das, bitte.»
    Er nickte, richtete sich auf und wiederholte: «Hilfe, Hilfe.»
    «Was wollen Sie?»
    «Nehmen Sie mich mit.»
    «Wohin?»
    «Irgendwohin.»
    «Tut mir leid.»
    Der Mann lehnte die noch einmal hingehaltene Münze mit schmerzverzerrtem Gesicht ab, und als er dabei ein wenig den Kopf drehte, sah Helen die große, mit Blut und Sand verkrustete Wunde an seinem Hinterkopf. Seine Augen suchten den Horizont ab. Das deutsche Pärchen im VW-Bus, das die Szene die ganze Zeit beobachtet hatte, war unruhig geworden. Der Fahrer schüttelte den Kopf und machte durchs Seitenfenster hindurch abwehrende Handbewegungen mit beiden Händen. Die Beifahrerin las mit zerfurchter Stirn die Gebrauchsanleitung auf einer CS-Gas-Dose.
    Der Tankwart erschien wieder, drückte Helen wortlos das Wechselgeld in die Hand und machte sich dann am Tankdeckel des VW-Busses zu schaffen.
    «Was ist los?», fragte Helen den Verletzten.
    «Ich weiß es nicht.»
    «Sie wissen nicht, was los ist?»
    «Ich muss weg hier. Bitte.»
    «Glauben Sie an Schicksal oder so was?»
    «Nein.»
    «Das ist ja schon mal was.» Sie sah den Mann eine Weile nachdenklich an. Dann öffnete sie ihm die Beifahrertür.
    Jetzt hielt das Pärchen im VW-Bus es nicht länger aus. Der Junge kurbelte das Fenster runter. «Achtung, Achtung!», rief er in schlechtem Englisch. «Nicht Europa hier! Kein Trampen.»
    «Gefahr, Gefahr!», assistierte seine Freundin.
    «Gefahr, Gefahr», sagte Helen. «Geht euch einen Scheiß an.» Und zum Mann: «Na los.»
    Sie stieg in den Honda. Er wischte sich einmal symbolisch mit den Händen über die sandverkrusteten Hosenbeine, sprang dann schnell auf den Beifahrersitz, schlug die Tür hinter sich zu und starrte durch die Windschutzscheibe wie ein Häschen, bis Helen den Motor anließ.
    «Sie müssen keine Angst haben», sagte er, nachdem sie ein paar Minuten auf der Piste fuhren.
    Helen zog an ihrer Zigarette und warf ihm erneut einen langen Blick zu. Ihr Beifahrer war einen halben Kopf kleiner als sie und saß mit zitternden Ärmchen neben ihr. Sie hielt ihren eigenen, muskulösen Arm neben seinen und machte eine Faust.
    «Ich sag ja nur», sagte der Mann.
    «Ich fahr nach Targat. Da bring ich Sie ins Krankenhaus.»
    «Ich will nicht ins Krankenhaus.»
    «Dann zum Arzt.»
    «Nicht zum Arzt!»
    «Wieso nicht?»
    Es kam lange keine Antwort. Schließlich sagte er unsicher: «Ich weiß nicht», und Helen ging vom Gas und ließ den Wagen ausrollen.
    «Nein!», rief der Mann sofort. «Bitte! Bitte!»
    «Du weißt nicht, wo du hinwillst. Du weißt nicht, warum du wo hinwillst. Du musst zum Arzt und willst nicht – und weißt nicht, warum. Na komm. Was weißt du denn?»
    Dafür, dass er nicht viel wusste, dauerte seine Erzählung ganz schön lang. Immer wieder musste Helen nachfragen. Der Mann sprach stockend und mühsam. Manche Worte wollten nicht heraus, sein Oberkörper zuckte. Aber er ergänzte und korrigierte bereitwillig seine Angaben, ärgerte sich über Ungenauigkeiten, die ihm unterliefen, tippte sich aufgeregt an die Stirn und sprudelte am Ende immer mehr und mehr Details hervor. Dachboden, Geldkoffer, Poseidon. Nichts von dem, was er erzählte, ergab einen Sinn, und nicht zuletzt dieser Umstand überzeugte Helen schließlich davon, dass ihr sonderbarer Beifahrer die Wahrheit sagte. Oder es wenigstens versuchte.
    Nur ein einziges Detail ließ er aus. Bei aller Gelassenheit und Souveränität, die die amerikanische Touristin hinterm Steuerrad ausstrahlte, war ein mit dem Flaschenzug erschlagener Mann vielleicht eine Spur zu viel für einen nachmittäglichen Ausflug durch die Wüste. Ausführlich und möglichst wörtlich dagegen versuchte er, das Gespräch der vier Männer wiederzugeben, das er belauscht hatte, ihre unverständlichen Reden, ihren unverständlichen Zorn, den unverständlichen letzten Satz.
    «Wenn er Pauline informiert, wenn er die Bienen exportiert, wenn die Maschine funktioniert… ich weiß es nicht.»
    «Wenn er die Mine jetzt zerstört», sagte Helen und schnipste die Kippe aus dem Fenster.
    Vor ihnen tauchten die beiden Kamele auf, die sich über der Straße in der Luft küssten. Geruch von Holzfeuern und Schiffsdiesel wehte von Targat herüber. Im Westen war der Himmel rot und schwarz.

    MERCUROCHROM
     
    Wenn ein Dieb ergriffen wird beim Einbruch und wird dabei geschlagen, dass er stirbt, so liegt keine Blutschuld vor. War

Weitere Kostenlose Bücher