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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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aber schon die Sonne aufgegangen, so liegt Blutschuld vor.
    2. Mose 22, 1-2
     
    Das von einer Jalousie in Streifen geschnittene Licht des Mondes lag auf einem Doppelbett, parallele Schlangen aus Licht. Ein zweites Fenster stand offen, Meeresrauschen und der Geruch von Salz und Jod. Das Geräusch gleichmäßiger Atemzüge. Er wälzte sich herum und sah ein paar Handbreit von sich entfernt ein Büschel blonder Haare.
    Vier Tabletten hatte er geschluckt, das wusste er, die restlichen Tabletten lagen neben ihm auf dem Nachttisch vor einem Glas Wasser. Das wusste er auch. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war finster. In komplizierten Labyrinthen kämpfte er darum, einen Blick durch ein Fernglas werfen zu dürfen. Er sah in die Mündung einer kleinkalibrigen Waffe, und ein Mann mit Dreizack stürmte auf ihn zu. Er blickte in sein eigenes Gesicht und hörte einen Dieselmotor. 581 d. Aufmerksam verfolgte er, wie die spiegelbildliche Frau ihm einen Verband anlegte. Ein Fläschchen Mercurochrom in ihrer Hand. Wie sie ihn unter der Dusche festhielt. Wie er nicht stehen konnte.
    Mit beiden Händen umklammerte er das Waschbecken, während sie die Wunde desinfizierte. Er hörte sich schreien vor Schmerz, ein roter Tropfen auf weißem Porzellan. Wie sie ihn beruhigte. Wie sie ihn an den Schultern vor sich herschob und mit der Handkante eine Linie auf dem Bettlaken zog: Deine Hälfte. Meine Hälfte. Hier stell ich noch Tabletten hin. Hast du das gesehen? Nimm die Hände runter. Atme.
    Die parallelen Schlangen aus Licht wanderten vom Bett hinab auf den Fußboden und glitten über die Wand. Immer wieder im Verlauf der Nacht öffnete er die Augen und sah die Schlangen mal einen halben Meter weitergewandert, mal an derselben Stelle wie zuvor, ohne dass sein Zeitgefühl sich in derselben Weise fortbewegte. Schließlich stand er auf und schlich im Dunkeln zur Toilette. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass beide Hälften des Doppelbetts leer waren, aber das beunruhigte ihn nicht sonderlich. Das Badezimmer lag voller Sand. Hinter dem größten Sandhaufen war ein tiefes Loch in die Erde gegraben, das von einem Tier mit zwei Köpfen bewacht wurde. Ein Kopf vorne, einer hinten. Einer tot, einer lebendig. Mit einem Strohhalm saugte der lebende Kopf Flüssigkeit aus dem Loch, ein entsetzlich blubberndes Geräusch. Telegraphenmasten setzten sich in Bewegung, senkrechte gelbe und blaue Gitterstäbe flogen vorüber. Immer wieder versuchte er, dem Käfig der Stäbe zu entkommen, immer wieder schlossen sie ihn ein, bevor langsam und beruhigend das Gefühl einer gelb und blau gestreiften Tapete hinzuströmte. Das war kein Albtraum. Oder nur der Albtraum der Realität. Ein Touristenbungalow am frühen Morgen.
    Er hatte Angst, sich im Bett herumzudrehen, Angst vor Unerwartetem, und als er sich herumdrehte, sah er eine Küche. Vor der Küchenspüle eine nackte Frau. Sie kochte Kaffee. Das Blubbern ging in ein Zischen über.
    Mit einem Gesicht, als starre er in die Sonne, sagte er: «Wir kennen uns von gestern.»
    «Richtig», antwortete die nackte Frau. Sie hatte präzise lackierte Fingernägel. Mit Daumen und Zeigefinger schlenkerte sie einen Kaffeefilter ins Spülbecken.
    «Du heißt Helen», sagte er unsicher.
    «Ja. Und wenn du nicht mehr weißt, wer du bist, mach dir keine Sorgen. Wusstest du gestern auch schon nicht. Milch oder Zucker?»
    Aber er wollte weder Milch noch Zucker. Er wollte nicht frühstücken. Sobald er nur daran dachte, wurde ihm übel, und er schloss die Augen. Als er das nächste Mal erwachte, lag das Zimmer im Halbdunkel. Ein Schatten saß auf seiner Bettkante und tupfte ihm mit einem nassen Waschlappen das Gesicht ab. Aus einer Porzellanschüssel dampfte es, auf der Straße verloren sich Stimmen, die Frau schnipste eine Pille in seinen Mund. Sie trug jetzt ein weißes Kleid mit durchbrochenen Ärmeln.
    Einmal sah er sie mit einer Badetasche über der Schulter und im Bikini den Bungalow verlassen. Einmal hörte er sie mit der CIA telefonieren. Einmal hatte sie zwei Köpfe. Mit zwei klobigen Styroportabletts kam sie vom Hotel zurück. Beide Tabletts waren mit Alufolie umwickelt, und als sie die Folie abmachte, dampfte das Essen, als komme es gerade aus dem Ofen. Er konnte nichts essen.
    «Was hab ich dir erzählt?», fragte er.
    «Weißt du das nicht mehr, oder bist du dir nur nicht sicher?»
    «Nicht sicher.»
    «Du bist auf einem Dachboden in einem Haus in der Wüste aufgewacht. Du hast eine Platzwunde am Kopf,

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