Herrndorf, Wolfgang - Sand
Vertreterin?»
«Nein, nicht Vertreterin. So ähnlich. Ich soll hier was aufbauen.»
«Für einen amerikanischen Konzern? Du arbeitest für einen amerikanischen Kosmetikkonzern?»
«Ich seh mich nur um.»
«Im Ernst?», rief Michelle.
Sie konnte sich kaum beruhigen. Ihre über alles bewunderte Jugendfreundin Helen, die gefürchtete Helen Gliese mit ihrer schneidenden Intelligenz, die zynische Helen, die hochmütige Helen – ein kleines Rädchen im bürgerlich-kapitalistischen Verwertungszusammenhang!
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von einer Sekunde auf die andere vollkommen. Es lag Michelle fern, auf jemanden herabzuschauen, aber ihr Erstaunen war grenzenlos und echt. Wieder einmal bewahrheitete sich die schmucklose Allmacht der großen Zerstörerin Zeit: Was wird aus dem Menschen und seinen Träumen und Hoffnungen? Was aus dem strahlenden Stern, dem intellektuellen Star der Matarazzo Junior High, dem von Jungen umlagerten, blonden und hochbrüstigen Mädchen?
Unwillkürlich sah sie sich selbst daneben. Michelle hatte – und es war ihr nie zuvor so bewusst geworden – den Sprung ins Unbekannte gewagt. Die kleine Michelle, die im Grunde immer nur geduldete, von Helen nie für voll genommene Michelle Vanderbilt, sie hatte dem bürgerlichen Sicherheitsdenken Lebewohl gesagt und ihre Ideale verwirklicht. Sie hatte eine Kommune in Afrika mitbegründet, hatte die Scholle mit Händen aufgebrochen und ihr Dasein in eine Suche verwandelt. Sie hatte die höchsten Höhen durchmessen und war doch durch tragische Umstände vom Leben für immer gezeichnet. Vier Menschen waren neben ihr erschossen worden! Und in tiefstem Dunkel war ihre Seele gewachsen. Wie sonderbar nahm sich dagegen nun die Jugendfreundin aus, wie sie da stand vor einem Feld herrlicher, selbstgesäter Maispflanzen, in ihrer etwas unpraktischen, modischen Kleidung – Angestellte eines Kosmetikkonzerns! Die Ironie des Schicksals.
Helen übersah das bis zum Rand mit Triumph gefüllte Gesicht Michelles und blickte auf ein kleines, vertrocknetes Maispflänzchen am Rande des Feldes, das sich aus dem großen Kreislauf des Lebens und der alldurchdringenden Energie verabschiedet zu haben schien. Am Fuß der Pflanze befand sich ein Nest wimmelnder, weißlicher Maden in der Erde, das von Ameisen attackiert wurde. Kleine, weiße Kugeln schwammen auf dem schwarzen, wimmelnden Strom einem verschlingenden Erdloch zu. Michelle, von ihrer eigenen Genugtuung beschämt, folgte Helens Blick.
«Ja, so ist das!», rief sie überschwänglich. «Traurig, oder? Die weißen Dinger kriechen hier überall rum. Manchmal hab ich die Ameisen weggemacht mit dem Finger, um zu helfen, aber – es hilft ja nichts. Das ist die Natur. Es ist so, wie es ist. Und es ist gut so. Die Maden und all die anderen kleinen Tiere und wir Menschen auch, wir sind letztlich nur Teil eines größeren Ganzen, eines gemeinsamen Projekts.»
«Ich vermute, wenn man sie befragen könnte, würden deine Thesen im Lager der Ameisen mehr Zustimmung erhalten als bei den Maden.»
«Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, die sehen nur einen Teil. Doch solang du das nicht hast, dieses Yin und Yang … es gehört alles zusammen, Leben und Sterben, ob dir das bewusst ist oder nicht. Und ich stell mich da nicht drüber. Alles ist eins. Alles ist sinnvoll.»
«Auschwitz», sagte Helen.
Doch so leicht konnte man Michelle nicht aus dem Konzept bringen. «Auschwitz», sagte Michelle ernst. «Ich weiß, wie du das meinst, und ich verstehe das. Ich verstehe das natürlich besonders bei dir und deiner Familie. Und natürlich war es falsch, was die Deutschen gemacht haben. Da gibt es keine Diskussionen: Das war falsch!» Sie schaute einen Moment bedeutungsvoll. «So wie es auch falsch ist, die Juden mit diesen Maden zu vergleichen, wie du es eben – unbewusst, nehme ich an, oder unabsichtlich – getan hast. Obwohl du ja selbst… aber was ich sagen will: Palästina. Was ihr, ich meine, was die Israelis den Palästinensern antun, das ist ja auch nichts anderes als Auschwitz – nein, warte, ich sag das noch zu Ende – im Grunde ist es schlimmer, weil ihr aus der eigenen Geschichte nichts gelernt habt, wie so viele aus der eigenen Geschichte nichts lernen, aber hier eben besonders tragisch, weil Juden, genauso wie Palästinenser, beide unter dem Einfluss des Merkur stehend – ich meine, was die ungeheuren Verbrechen betrifft, die da begangen werden, die Verbrechen an palästinensischen Frauen und Kindern, an
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