Herrscher des Lichts - Sanderson, B: Herrscher des Lichts - The Hero of Ages, Mistborn 3
sich in so großer Nähe zum Pfand aufzuhalten.
Der Raum war riesig, kreisrund und hatte Metallwände. Das Podest bestand aus einer massiven Stahlscheibe, die in den Steinboden eingelassen war. Sie war nicht sehr hoch – vielleicht einen Fuß –, aber sie maß zehn Fuß im Durchmesser. TenSoon spürte die Kälte der glatten Oberfläche an seinen Füßen und wurde dadurch wieder an seine Nacktheit erinnert. Man hatte ihm nicht die Hände gefesselt; das wäre sogar für ihn eine zu große Beleidigung gewesen. Ein Kandra gehorchte dem Vertrag, auch wenn er aus der Dritten Generation stammte. Er würde nicht weglaufen, und er würde auch niemanden aus seiner eigenen Art niederschlagen. So tief war er noch nicht gesunken.
Der Raum wurde nicht von Glühsteinen, sondern von Lampen erhellt, die aber in blaues Glas eingeschlossen waren. Öl war schwierig zu bekommen; die Zweite Generation wollte sich aus guten Gründen nicht auf Vorräte aus der Welt der Menschen verlassen. Die Leute oben – sogar die meisten Diener des Vaters – wussten nicht, dass es eine Zentralregierung der Kandras gab, und das war gut so.
In dem blauen Licht erkannte TenSoon deutlich die Mitglieder der Zweiten Generation – alle zwanzig, die nebeneinander hinter ihren Pulten auf der anderen Seite des Raumes standen. Sie waren ihm so nah, dass er sie sehen, betrachten und zu ihnen
reden konnte, aber weit genug von ihm entfernt, um TenSoon, der auf der Mitte des Podestes stand, das Gefühl der Isolation zu verleihen. Er senkte den Blick und bemerkte das kleine Loch im Boden, nicht weit von seinen Zehen entfernt. Es war in den Stahl des Podestes eingeschnitten.
Das Pfand, dachte er. Es befand sich unmittelbar unter ihm.
»TenSoon aus der Dritten Generation«, sagte eine Stimme.
TenSoon schaute auf. Es war natürlich KanPaar. Er war ein großer Kandra – genauer gesagt bevorzugte er es, einen großen Wahren Körper zu tragen. Wie alle aus der Zweiten bestanden seine Knochen aus reinstem Kristall, und seiner besaß eine tiefrote Färbung. Es war in vieler Hinsicht ein unpraktischer Körper. Diese Knochen würden einer Bestrafung kaum standhalten. Doch für einen Verwalter des Heimatlandes war die Schwäche der Knochen anscheinend ein nicht zu hoher Preis für ihre glitzernde Schönheit.
»Ich bin hier«, sagte TenSoon.
»Bestehst du auf diesem Prozess?«, fragte KanPaar mit stolzem Tonfall, der seinen kräftigen Akzent noch deutlicher hervorhob. Da er sich so lange von den Menschen ferngehalten hatte, war seine Sprache nicht durch ihre Dialekte verdorben worden. Vermutlich glich der Akzent der Zweiten dem des Vaters.
»Ja«, sagte TenSoon.
KanPaar seufzte hörbar hinter seinem eleganten steinernen Pult. Schließlich neigte er den Kopf vor den oberen Rängen des Raumes. Von dort oben aus schaute die Erste Generation zu. Ihre Mitglieder saßen in abgetrennten Nischen, welche über die gesamte Wandlänge des oberen Raumes liefen und so sehr im Schatten lagen, dass die Kandras dort kaum mehr als menschenähnliche Klumpen waren. Sie sprachen nicht. Das überließen sie den Zweiten.
Die Tür hinter TenSoon wurde geöffnet, und es ertönten gedämpfte Stimmen und raschelnde Schritte. Er drehte sich um
und lächelte in sich hinein, als er sie eintreten sah. Es waren Kandras von unterschiedlichstem Aussehen und Alter. Die Allerjüngsten durften an einem solch wichtigen Ereignis noch nicht teilnehmen, aber jenen aus den Erwachsenengenerationen – bis hoch zur Neunten – konnte man die Anwesenheit nicht verwehren. Das war ein Sieg für ihn – vielleicht der Einzige, den er in dem ganzen Prozess erringen würde.
Falls er zu ewigem Gefängnis verurteilt wurde, dann wollte er, dass vorher sein Volk die Wahrheit erfuhr. Wichtiger noch, er wollte, dass es an seinem Prozess teilnahm und hörte, was er zu sagen hatte. Er würde die Zweite Generation nicht überzeugen können, und wer wusste schon, was die schweigende Erste in ihren verschatteten Nischen dachte? Aber die jüngeren Kandras … vielleicht würden sie zuhören. Vielleicht würden sie etwas unternehmen, sobald TenSoon nicht mehr da war. Er sah zu, wie sie in einer Reihe einmarschierten und die Steinbänke füllten. Jetzt waren Hunderte Kandras anwesend. Die älteren Generationen – die Ersten, Zweiten, Dritten – waren nicht so zahlreich, denn viele waren in den frühen Tagen getötet worden, als die Menschen sie noch gefürchtet hatten. Doch die späteren Generationen waren zahlreicher –
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