Herrscher des Lichts - Sanderson, B: Herrscher des Lichts - The Hero of Ages, Mistborn 3
denn keine Koloss-Kinder?«
»Kinder?«
»Kleine«, erklärte Vin.
Der Koloss deutete auf die marschierende Armee seiner Gefährten. »Kleine«, sagte er und deutete auf einige nur fünf Fuß große Kolosse.
»Kleiner«, meinte Vin.
»Keine Kleineren.«
Die Fortpflanzung der Kolosse war ein Rätsel, das nach Vins Wissen bisher noch niemand gelöst hatte. Selbst nach einem ganzen Jahr in Gesellschaft dieser Wesen hatte sie noch immer nicht herausgefunden, woher die neuen Kolosse kamen. Wann immer Elants Koloss-Armee zu klein wurde, stahlen sie sich neue von den Inquisitoren.
Doch es war lächerlich anzunehmen, dass sich die Kolosse nicht fortpflanzten. Vin hatte Koloss-Lager gesehen, die nicht von einem Allomanten beherrscht wurden, und dort töteten sich die Geschöpfe mit beängstigender Regelmäßigkeit. Dennoch gab es sie schon seit zehn Jahrhunderten.
Das bedeutete, dass die Kinder sehr schnell erwachsen werden mussten; zumindest nahmen Sazed und Elant das an. Es war ihnen bisher nicht gelungen, ihre Theorien zu bestätigen, und sie wusste, dass Elant diese Unwissenheit sehr zusetzte – vor allem da ihm seine Pflichten als Herrscher nur noch wenig Zeit für die Studien ließen, die er früher so geliebt hatte.
»Wenn es keine kleineren gibt«, fragte Vin, »woher kommen dann die neuen Kolosse?«
»Neue Kolosse kommen von uns«, sagte Mensch schließlich.
»Von euch?«, fragte Vin und runzelte die Stirn. »Das erklärt nicht viel.«
Mensch erwiderte darauf nichts mehr. Anscheinend war seine Redseligkeit verschwunden.
Von uns, dachte Vin. Vielleicht vermehren sie sich durch Knospung? Wenn man manche Wesen auf die richtige Weise teilte, wuchs aus jeder Hälfte angeblich ein neues. Aber das konnte bei den Kolossen nicht der Fall sein. Vin hatte die Toten auf den Schlachtfeldern liegen sehen, und keine abgetrennten Teile waren zu neuen Kolossen herangewachsen. Aber sie hatte auch noch nie einen weiblichen Koloss gesehen. Obwohl die meisten Bestien grobe Lendenschurze trugen, waren sie – soweit Vin wusste – allesamt männlich.
Ihre Grübeleien kamen zu einem plötzlichen Ende, als sie bemerkte, dass die Kolonne vor ihr langsamer wurde und einen Stau verursachte. Neugierig warf sie eine Münze, ließ den Koloss zurück und sprang über die Menschen hinweg. Der Nebel hatte sich schon vor vielen Stunden zurückgezogen, und obwohl sich die Nacht allmählich näherte, war es im Augenblick noch hell und klar.
Als sie durch die fallende Asche schoss, erkannte sie daher den Kanal vor ihr in aller Deutlichkeit. Er durchschnitt den Boden unnatürlicher und gerader als jeder Fluss. Elant war der Meinung, dass der andauernde Ascheregen die meisten Kanäle irgendwann verstopfen würde. Ohne Skaa-Arbeiter, die sie regelmäßig säuberten, sammelte sich die Asche in ihnen und machte sie am Ende nutzlos.
Vin flog durch die Luft und stieg in einem vollendeten Bogen hinunter zu einer großen Ansammlung von Zelten, die neben dem Kanal standen. Tausende Feuer spuckten Rauch in die nachmittägliche Luft, Männer liefen umher, übten sich in Kampfkunst, arbeiteten oder bereiteten sich auf ihren Einsatz vor. Etwa fünfzigtausend Soldaten biwakierten hier und benutzten den Kanal als Versorgungslinie nach Luthadel.
Vin warf eine weitere Münze und sprang wieder hoch in die
Luft. Rasch hatte sie eine kleine Pferdegruppe erreicht, die aus Elants müder marschierender Skaa-Kolonne ausgebrochen war. Sie schleuderte noch eine Münze zu Boden, drückte leicht gegen sie, um ihren eigenen Fall ein wenig zu bremsen, und sandte eine Aschewolke in die Luft, als sie landete.
Elant zügelte sein Pferd und lächelte, während er das Lager betrachtete. In der letzten Zeit war ein solcher Ausdruck auf seinem Gesicht so selten geworden, dass Vin unwillkürlich selbst lächeln musste. Vor ihnen warteten einige Männer auf sie; ihre Späher hatten sicherlich schon vor langer Zeit das Herannahen der Kleinstädter bemerkt.
»Graf Elant!«, rief ein Mann, der vor dem Soldaten auf seinem Pferd saß. »Ihr kommt früher als geplant!«
»Ich vermute, du bist trotzdem schon bereit, General«, erwiderte Elant und stieg ab.
»Ihr kennt mich doch«, meinte Demoux und lächelte, als Elant auf ihn zuschritt. Der General trug eine abgenutzte Rüstung aus Leder und Stahl, auf seiner Wange prangte eine Narbe, und an der linken Seite seines Kopfes fehlte ein großer Teil seiner Haare dort, wo sich ihm ein Koloss-Schwert beinahe in den Schädel gebohrt
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