Herrscher
Dars Brust, und falls Dar sich nicht täuschte, nahm ihr runzliges Gesicht einen Ausdruck des Staunens an.
»Meine Augen sehen nichts mehr«, sagte sie leise, »darum hat Muth’la meine übrigen Sinne verfeinert. Ich spüre in dir den Geist meiner Schwester. Er ist vermischt mit dem Geist vieler anderer.« Meera-yat verneigte sich so tief, wie ihr alter Rücken es gestattete. »Vergib mir, Muth Mauk, dass ich dich Washavoki genannt habe.«
Statt eine Antwort zu brüllen, drückte Dar die Hände der greisen Ork.
»Also, Zor-yats Tochter bist du.« Meera-yat verzog das Gesicht. »Freut es sie, dass du die Krone trägst?«
»Ich glaube nicht«, rief Dar.
»Das wundert mich keineswegs. Schon als ihre Schwester damals das Fathma empfangen hat, war sie missvergnügt. Jetzt ist sie ein zweites Mal übergangen worden. Und warum, Muth Mauk, besuchst du mich?«
»Ich bin zwar Königin, aber ich weiß wenig!«, schrie Dar.
»Ich bedarf der Unterweisung. Ich muss wissen, was ich tun soll. Wie ich mich zu verhalten habe.«
»Ist deine Muthuri dir keine Hilfe?«
»Sie ist der Meinung, eine andere sollte herrschen.«
»Was?«
»Sie will eine andere Königin!«, brüllte Dar.
»Ohne Zweifel denkt sie dabei an sich selbst. Wahrscheinlich nimmt Muth-yat eine ähnliche Haltung ein.«
»Deine Schwester war Königin. Gewiss kennst du dich so gut aus wie sie.«
Meera-yat lächelte. »Viele Winter hindurch habe ich an ihrer Seite gestanden.«
»Wirst du mir helfen?«
»Hai, Muth Mauk.«
»Ich muss dich allerdings warnen«, rief Dar. »Ich glaube, Muth-yat wird verstimmt sein.«
»Was kümmert’s mich? Ich habe nichts mehr zu verlieren. Mein Zweig der Sippe stirbt aus. Meine Enkelinnen sind in Taiben dahingesiecht. Meine Enkel sind in Schlachten gefallen. Nur Metha ist noch da und wird von Gram verzehrt. « Kurz überlegte Meera-yat. »Kennst du Muth’las Kuppel?«, fragte sie schließlich.
»Hai!«, schrie Dar, die sich noch gut an den Ort erinnerte, wo sie ihre Wiedergeburt erlebt hatte.
»Sie wäre ein tauglicher Platz für Gespräche. Es ist eine heilige Stätte, und wir wären allein.«
Die Wahl des Treffpunkts gefiel Dar. Sie schlussfolgerte daraus, dass Meera-yar wusste, in welcher heiklen Lage sie sich befand. »Ich schicke einen Sohn, um dich hinzuführen.«
»Ich brauche keine Augen, um hinzugelangen. Wenn die Sonne am höchsten steht, finde ich mich dort ein und warte auf dich.«
Obwohl Meera-yat die Geste nicht sehen konnte, verbeugte sich Dar. »Shashav.«
»Ich verdiene keinen Dank, denn du bist es, die mir eine Ehre erweist, Muth Mauk. Ich werde für dich mein Bestes tun. Vieles kann ich dich lehren, aber ich kann nicht deinen Weg für dich finden. Du musst ihn selbst entdecken.«
Dar hatte das befürchtet. Dennoch sah sie einen Trost und sprach es aus. »Wenigstens habe ich das Fathma. Daran kann niemand mehr etwas ändern.«
»Der Rat der Matriarchinnen kann es.«
»Wieso?«
»Hast du nichts von Muth’las Trunk gehört?«
»Thwa. Was ist das?«
»Das ist eine Prüfung deiner Würdigkeit. Aus Samen von Muth’las Heiligem Baum wird ein Trank zubereitet. Hält der Rat eine Königin für ungeeignet, kann er fordern, dass sie ihn trinkt.«
»Was soll damit bewiesen werden?«, fragte Dar.
»Wenn die Königin herrschen soll, bewahrt Muth’la ihr Leben.«
»Der Trank ist giftig?«
»Nur für eine ungeeignete Königin.«
»Und stirbt sie, überträgt sich das Fathma auf eine andere ?«
»Hai. Dann ist es Muth’las Wille.«
Diese Enthüllung jagte Dar Entsetzen ein. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie in ernster Gefahr schwebte. Diese »Prüfung« lief auf nichts anderes als eine Hinrichtung hinaus. »Hat je eine Königin diese Prüfung bestanden?«
»Die Matriarchinnen sind klug. Sie irren sich nie, wenn sie eine Große Mutter für untauglich halten.«
6
ALS DAR in ihr königliches Hanmuthi zurückgekehrt war, hatte sich ihre Beunruhigung noch verstärkt.
Schon längst hatte sie in Betracht gezogen, dass die Matriarchinnen der Sippe sich möglicherweise gegen sie stellten, jedoch nicht im Geringsten geahnt, ihre Abneigung könnte unter Umständen mörderischer Natur sein.
Unwillkürlich beschäftigte sie die Frage, ob sie vielleicht die Absicht hinter Zor-yats Empfehlung, die Krone abzugeben, fehlgedeutet hatte. Doch obwohl sie sich bedroht fühlte, widerstand sie jeder Neigung zum Einlenken. Teils tat sie es aus Trotz, teils auch dank des Fathma. Es hatte sie noch weiter in
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