Herz an Herz
ehrlich sein (ja, das habe ich mir vorgenommen!).
Also, ich verkaufe Versicherungen. So, jetzt ist es raus. Aber wenn Sie eine brauchen, fragen Sie mich bitte nicht, es wäre mir peinlich.
Schnell zur dritten Frage, die eigentlich die zweite ist. Ich muss ein Geständnis damit verbinden: Immer wenn ich Ihnen schreibe oder Ihre Briefe beantworte (jetzt auch), höre ich Musik von Michael Franks. Anfangs war das unbewusst, dann wurde es ein festes Ritual. Michael Franks’ (englisch ausgesprochen!) Musik ist gefühlvoll, ehrlich, ernst, aber auch verspielt und voller Sehnsucht. Sie trägt mich weit weg, zu einer Insel, wo immer die Sonne scheint und wo es doch echte Gefühle gibt. Ich habe die Alben dieses wunderbaren Musikers schon vor Ihren Briefen gehört, und zwar häufig dann, wenn ich deprimiert war und an etwas Schönes denken wollte. Mein Lieblingsalbum ist derzeit «Barefoot on the Beach». Auch das hat einen Grund (wie wohl alles in meinem Leben).
Barfuß am Strand
… Beim Titelsong muss ich immer an die Hochzeit denken, auf der Sie im Sommer waren, und ich stelle mir vor, wie Sie barfuß (und leicht beschwipst) Ihre Flaschenpost im Meer entsorgt haben. (Glücklicherweise, sonst hätte sie mich später nie am Kopf getroffen.)
Meine Verknüpfung mit Ihnen und dem Album geht aber noch weiter. Es ist mir zwar peinlich, und eigentlich sollte ich es wahrscheinlich gar nicht zugeben, aber jetzt ist es schon fast zu spät: Song Nummer 3 singt Mr. Franks mit einer Partnerin zusammen. In meiner Phantasie stelle ich mir vor, dass Sie das sind und wir diesen Song zusammen singen. (Oh Gott, hoffentlich denken Sie jetzt nicht, der Mann spinnt!)
Nachdem ich Ihnen das nun gestanden habe, traue ich mich auch endlich zu fragen, was mir schon so lange auf dem Herzen liegt: Was war eigentlich so schlimm an der Flaschenpost-Hochzeit? Das Brautpaar? Ihre persönliche Stimmung? Ihre Tischnachbarn?
Die Hochzeit ist übrigens eine gute Überleitung zu Ihrer letzten Frage: Welche Rolle spielt meine Mutter in unserer Brieffreundschaft?
Würden Sie mich das auf einer Party fragen, würde ich lachen und einen Witz darüber machen. Etwa so: Meine Mutter hat eigentlich die Flaschenpost gefunden und mich aufgefordert, Ihnen zu schreiben, denn sonst würde ich nie eine Frau finden … oder dergleichen. Auf besagter Party würden Sie dann entweder fluchtartig das Buffet aufsuchen oder lachen und darauf eingehen – und wir wären weiter im Gespräch, was auf einer Party stets mein Hauptanliegen ist. Im Grunde wäre ich Ihrer Frage nach meiner Mutter aber ausgewichen. In diesem Brief fällt mir das Ausweichen nun nicht so leicht, denn ich will ja ehrlich sein (siehe Song Nummer 3!).
Die Wahrheit ist: Meine Mutter wohnt seit geraumer Zeit in einem Heim und leidet an Alzheimer. Ich fahre zweimal die Woche (Sonntag und Mittwoch) zu ihr und erzähle, was passiert ist. Ich nenne es die «Ausflüge». Und ich versuche, mir jeden «Ausflug» so angenehm wie möglich zu machen, und denke mir daher jeden Tag eine Kleinigkeit aus. (Diese Idee ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern auf dem eines Psychologen im Heim meiner Mutter.) An Tag 1 esse ich beispielsweise auf dem Rückweg zwei Kugeln Eis bei meinem Lieblingsitaliener. An Tag 2 setze ich mich auf dem Rückweg für genau drei Songs meines MP 3-Spielers auf eine bestimmte Bank und schließe die gesamte Zeit meine Augen, egal was passiert usw.
Auf diese Art halte ich meine «Ausflüge» spannend. Offenbar habe ich das nötig, denn die Zeit mit meiner Mutter ist anstrengend. Bei der Hälfte der Besuche erkennt mich meine Mutter nicht wieder. An diesen Tagen tue ich einfach so, als würde sie sich einen Spaß mit mir erlauben. Ich lache dann über ihren «Witz», dass sie mich nicht erkennt, und tue im Grunde so, als hätte ich es nicht gehört.
An diesen Tagen ist es egal, was ich meiner Mutter erzähle, denn sie weiß ja nicht, wer ich bin. So kommt es vor, dass ich mir einfach etwas ausdenke, was passiert sein könnte. Dass ich zum Beispiel einen alten Freund getroffen habe, der jetzt als Spion arbeitet und mich für einen Job anheuern wollte. (Das geht sogar so weit, dass ich schon angefangen hatte, mir eine Art Parallelwelt zu erfinden, aber dazu vielleicht später mal mehr.) Während ich ihr von meinen Abenteuern erzähle, habe ich unheimlich Spaß, aber wenn ich das Heim verlasse, finde ich es traurig und gemein. Wenn meine Mutter mich erkennt, ist es noch
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