Plauschen meinen Briefkasten und hole die Post heraus. Nachdem sich Petzi oben von mir verabschiedet hat, reiße ich den einzigen Brief auf, den ich bekommen habe. Ich lese ihn noch vor meiner Tür. Er ist vom Einwohnermeldeamt und unterrichtet mich, dass ich meinen Reisepass abholen könnte. Jemand hat ihn dort abgegeben.
Da staunst Du, was? Ich auch.
In meinem Kopf ratterte es natürlich. Wie ist mein Reisepass von Thailand nach Deutschland gekommen? Ich hatte ihn doch in Bangkok verloren und nicht in München? Oder?
Ich rufe also am nächsten Tag im Amt an, wo mich eine überraschend freundliche Bayrin darüber informiert, dass mein Pass bei einer Polizeistation in Lüdenscheid (!) von einem Mann abgegeben wurde, der seinen Urlaub in Thailand verbracht hat. Offensichtlich hat er meinen Reisepass in seinem – in Bangkok frisch gekauften – Rucksack gefunden. In seinem neu gekauften Rucksack! In Bangkok!
Du staunst noch mehr? Ich auch!
Mehr wusste die Dame vom Amt leider auch nicht. Aber als ich aufgelegt hatte, dachte ich länger über die Sache nach. Mittlerweile kann ich mir die Geschichte auch zusammenreimen: Ich hatte mir in Bangkok in mehreren Geschäften Taschen und Rucksäcke angesehen. Da ich wissen wollte, ob ein DIN -A4-Umschlag hineingehen würde, habe ich die Mappe mit meinen Reiseunterlagen probeweise hineingesteckt.
Aha!, denkst Du. (Und ich dachte es auch.) Der Pass muss also bei dieser Aktion in den Rucksack gefallen sein. Denn den Rucksack habe ich natürlich NICHT gekauft, sondern besagter Lüdenscheider.
Irre, oder?
Nun frage ich mich natürlich, warum der Mann den Pass nicht in Thailand abgegeben hat, wo ich ihn vielleicht bei der Botschaft hätte abholen können.
Du fragst Dich das auch?
Nun, der Mann hat mir gestern eine Mail geschickt, um die Sache aufzuklären (und um recht unverhohlen einen kleinen Dank für seine Dienste einzufordern). Er hat den Ausweis tatsächlich in einem neu erstandenen Rucksack gefunden, ihn aber nicht in Thailand abgegeben, weil er dachte, dort gibt es so viel Korruption, dass mein Ausweis wahrscheinlich nie bei mir ankommen würde. Also hat er ihn mit nach Deutschland genommen.
Was soll ich am Weihnachtsabend davon halten? Soll ich mich freuen, dass es so nette Menschen gibt? Soll ich mich ärgern, dass ich einen Pass wiederbekomme, der mir nichts mehr nutzt, weil ich schon einen neuen beantragt habe? Soll ich fluchen, weil jemand in ein schönes Land fährt, die Leute dort aber für korrupt hält?
Ich weiß es nicht, und heute Abend ist es mir auch egal. Lieber denke ich an Dich und stelle mir vor, wie Du im warmen Licht einer kerzenbeleuchteten Tanne (ihr nehmt doch echte Kerzen, oder?) über einen Scherz Deines Schwagers lachst. Vielleicht habt ihr euer Wetttrinken schon begonnen, und Du hast schon gerötete Wangen, die Dich noch anziehender machen.
Ich habe nur einen Weihnachtswunsch: dass ich nächstes Jahr mit Dir zusammen unter dem Tannenbaum sitzen kann.
Alles Gute für Dich.
Dein Weihnachts-Berti
PS . In der Küche klingelt es, und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Die Kartoffeln sind fertig und müssen abgegossen werden. Gleich hole ich den Lachs raus, die Butter steht schon auf dem Tisch. Ich gieße mir noch schnell ein Glas Wein ein. Prost.
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So 25. Dezember 14:32
Betreff: AW : Fröhliche Weihnachten
Von:
[email protected] An:
[email protected] Warnung: Dies ist keine Weihnachtsmail, sondern ein Wutbrief!
Ich brauche dich gerade mal, um wieder runterzukommen. Ich bin so was von … Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaargh! Ich bin enttäuscht, verletzt, traurig und wütend, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll – sorry, wenn es etwas durcheinandergeht.
Um die schreckliche Pointe schon mal vorwegzunehmen: ICH FLIEGE NICHT NACH NEW YORK ! Ja, du hast richtig gelesen. Ich kann es selbst noch nicht glauben, aber es ist die bittere Wahrheit, die mich schon die letzten zwei Stunden wie ein grässliches Monster von einer dunklen Ecke aus schadenfroh beobachtet.
Es ist alles so gemein!
Aber von vorn: Heute Vormittag habe ich ein letztes Mal (wahrscheinlich ist es wirklich das letzte Mal!) mit meiner Freundin Melli telefoniert. Es ging eigentlich nur darum, uns noch mal gegenseitig abzufragen, ob wir an alles gedacht haben und nicht irgendwas doppelt mitschleppen wie Adapter, Glätteisen usw. Erst ganz am Ende, als wir uns schon wie zwei Teenager vor ihrem ersten Clubbesuch in