Herz aus Eis
sie sich bang, ob sie nicht zu weit gegangen war. Aber trotz seiner Bemerkung hatte seine Stimme nicht wirklich ärgerlich geklungen.
Sie wanderten schweigend noch ungefähr eine Meile weit, bis sie zum Eingang der verlassenen Mine kamen. Sie befand sich am Rand eines ziemlich steilen Abhangs und gewährte einen schönen Rundblick auf das Tal und die Ebene, die sich hinter Chandler ausbreitete.
Der Stollen, den man in den Berg vorgetrieben hatte, war schon nach sechs Metern unpassierbar; dort war die Decke eingestürzt. Houston bückte sich, hob ein Stück Kohle auf und trug es hinaus in die Sonne. Wenn man Kohle aus der Nähe betrachtete, sah sie wunderschön aus — schimmernd und glänzend wie Silber. Houston mochte gern glauben, daß sich so ein Stück Kohle, wenn es lange genug unter hohem Druck stand, in einen Diamanten verwandeln konnte.
Sie blickte hinunter auf das Tal und betrachtete dann den Steilhang am Fuß der Mine. »Wie ich es mir gedacht hatte«, sagte sie, »es lohnte sich nicht, die Kohle zu fördern.«
Kane, der mehr an der Aussicht interessiert war, warf einen flüchtigen Blick auf die Kohle, die sie in der Hand hielt. »Sieht für mich genauso aus wie jede andere Kohle auch. Was fehlt ihr denn?«
»Ihr fehlt gar nichts. Im Gegenteil, es ist eine sehr hochwertige Kohle; aber du kannst kein Gleis bis hierher verlegen; und ohne Eisenbahn, die für den Abtransport sorgt, ist die Kohle wertlos — wie mein Vater feststellen mußte.«
»Ich dachte, dein Vater hat als Händler sein Geld verdient.«
Houston fuhr mit dem Handteller über die glatten Flächen der gebrochenen Kohle, die sich so geschmeidig anfühlten und dennoch so fest. Viele Bergarbeiter hielten die Kohle für ein sehr sauberes, reines Mineral und steckten sich ein Stück davon in den Mund, um bei der Arbeit daran zu saugen. »Das stimmt; aber er kam nach Colorado, weil er von dem Kohlereichtum dieser Gegend gehört hatte. Er glaubte, hier wohnten nur reiche Leute, die sich darum reißen würden, ihm für teures Geld die zweihundert Kohleöfen abzunehmen, die er unter großer Lebensgefahr über die >Große Wüste< transportiert hatte, wie man das Land zwischen St. Joseph und Denver nannte.«
»Klingt vernünftig. Also verkaufte er hier seine Öfen und gründete dann ein Warenhaus.«
»Nein, er machte fast bankrott. Denn es stimmte zwar, daß man in Colorado nur mit einem Spaten die Erde umgraben mußte, um an die Kohle heranzukommen; aber damals reichte die Eisenbahn noch nicht bis hierher, und deshalb gab es keine Möglichkeit, die geförderte Kohle auch gewinnbringend zu vermarkten. Mit Ochsenkarren konnte man die Kohle nicht in so großen Mengen befördern, daß sich der Transport überhaupt gelohnt hätte.«
»Und wie hat dein Vater dieses Problem gelöst?«
Houston lächelte bei der Erinnerung an die Geschichte, die ihre Mutter ihr schon so oft erzählt hatte. »Mein Vater hatte große Träume. Am Fuß des Berges, auf dem wir jetzt stehen, befand sich damals eine kleine Siedlung von Bauern und Viehzüchtern, und mein Vater meinte, die Stelle würde sich großartig für die Gründung einer Stadt eignen — für die Gründung seiner Stadt. Er schenkte jedem Bauer einen Kohleofen, wenn er ihm dafür versprach, die Kohlen zum Heizen des Ofens von den Chandler Coal Works in Chandler, Colorado, zu beziehen.«
»Heißt das, daß er die Stadt nach sich selbst benannt hat?«
»Genauso ist es. Ich hätte die Gesichter der Leute sehen mögen, als er ihnen eines Tages eröffnete, daß sie nun in der Stadt von Mr. William Houston Chandler, Esquire, wohnten.«
»Und ich war immer der Meinung gewesen, man habe die Stadt nach ihm benannt, weil er hundert Babies aus einem brennenden Gebäude gerettet hat oder so etwas Ähnliches.«
»Mrs. Jenks von der Stadtbibliothek hat mir erzählt, mein Vater sei zum Ehrenbürger der Stadt ernannt worden, weil er so viel für die Stadt gestiftet hat.«
»Und warum ist er nicht von der Kohle reich geworden?«
»Weil der Rücken meines Vaters schon nach einem Jahr nicht mehr mitmachen wollte. Er förderte die Kohle selbst, lud sie auf Ochsenkarren und belieferte damit die von Monat zu Monat wachsende Einwohnerschaft von Chandler. Doch nach einem Jahr verkaufte er seine Mine für einen Apfel und ein Ei an ein paar kräftige Bauernsöhne. Dann ging er wieder in den Osten, kaufte dort einundfünfzig Wagenladungen der verschiedenartigsten Güter, heiratete meine Mutter und kehrte einen Monat später
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