Herz der Finsternis
›Bitte, nicht‹, sagte ich mit gedämpfter Stimme.
›Verzeihen Sie mir. Ich – ich – habe solange im stillen getrauert – im stillen ... . Sie waren bei ihm – bis zum Ende? Ich denke immer an seine Einsamkeit. Niemand dort, der ihn verstand, so wie ich ihn
verstanden hätte. Vielleicht war niemand da, der ihm zuhörte ... ‹
›Bis zum Ende‹, sagte ich zittrig. ›Ich hörte seine letzten Worte ... ‹ Entsetzt verstummte ich.
›Wiederholen Sie sie‹, flüsterte sie mit gebrochenem Herzen. ›Ich will – ich will – etwas – etwas – mit dem ich – leben kann.‹
Ich war kurz davor, herauszuschreien: ›Hören Sie sie denn nicht?‹ Um uns wiederholte die Dämmerung seine Worte mit stetem
Flüstern, mit einem Flüstern, das bedrohlich anschwoll |131| wie das erste Flüstern eines aufkommenden Windes. ›Das Grauen! Das Grauen!‹
›Sein letztes Wort – um damit zu leben‹, drängte sie. ›Verstehen Sie nicht, ich liebte ihn – ich liebte ihn – ich liebte ihn.‹
Ich riß mich zusammen und sprach langsam.
›Das letzte Wort, das er aussprach, war – Ihr Name.‹
Ich hörte den leisen Seufzer, und dann setzte mein Herz aus, zum Stillstand gebracht von ihrem jubelnden, furchtbaren Schrei,
einem Schrei unfaßbaren Triumphs und unsäglichen Leids. ›Ich wußte es – ich wußte es sicher!‹ ... Sie wußte es. Sie wußte es sicher. Ich hörte, daß sie weinte; sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Mir war,
als müßte das Haus über meinem Kopf zusammenstürzen, bevor ich entkommen könnte, als würde der Himmel auf mein Haupt fallen.
Doch nichts davon geschah. Der Himmel kommt wegen einer solchen Lappalie nicht herunter. Wäre er gefallen, frage ich mich,
wenn ich Kurtz jene Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen, die ihm gebührte? Hatte er nicht selbst gesagt, er wolle nichts
als Gerechtigkeit? Aber ich konnte nicht. Ich konnte es ihr nicht sagen. Das wäre zu finster gewesen – zu finster ...«
Marlow endete und wandte sich ab, schemenhaft und schweigend, in der Pose eines meditierenden Buddha. Eine Weile rührte sich
keiner von uns. »Wir haben das Einsetzen der Ebbe versäumt«, sagte der Director plötzlich. Ich hob den Kopf. Über der offenen
See hing eine schwarze Wolkenbank, und die ruhige Wasserstraße, die bis an die äußersten Enden der Erde führte, strömte düster
unter einem bedeckten Himmel dahin – als führte sie in das Herz einer gewaltigen Finsternis.
|133| Herz der Finsternis
Ein Nachwort von Tobias Döring
Das Dominospiel findet nicht statt. Zwar sind die Steine schon zur Hand – und wer anders als der Buchhalter hätte sie verteilen
sollen? – doch aus irgendeinem Grund ziehen die Mitspieler nicht mit. Stattdessen beginnt einer unvermittelt zu erzählen:
von alten Abenteuerreisen und unverwundenen Erlebnissen, bloß so zum Zeitvertreiben, wie es scheint. Anders als beim Domino,
wo jeder der schwarz-weißen Bausteine sich dem vorangegangenen strikt fügt, bleiben seine Geschichten meistens vage, wirken
unzusammenhängend und in ihrer Aussage diffus. Vielleicht aber zieht dieser Marlow seine Zuhörer erst recht in Bann, da ihm
die Spielregeln für gut gebaute Stories wenig gelten. Ohnehin wissen ja alle, daß die paar Stunden bis zum höchsten Stand
der Flut, wenn sie endlich in See stechen, auch so vergehen. Doch während sie daher noch gleichmütig auf den Wechsel der Gezeiten
warten, dehnt Marlows unschlüssiger Erfahrungsbericht jene Übergangsperiode eigentümlich aus, da er mit einem Mal vergegenwärtigt,
was einer längst vergangenen Zeit gehört. So kommt es, daß eine der faszinierendsten und folgenreichsten Erzählungen der Weltliteratur
sich der Warterei verdankt. Und tatsächlich handelt sie auch immer wieder nur vom Warten: darauf, daß der Dampfer repariert
wird, daß der Nebel steigt, daß es endlich weitergeht. Auf diese Weise bietet sie, anstelle spielerischer Unterhaltung, ein
ungemütliches Verweilen und fesselt uns doch umso mehr. Denn bei aller beiläufigen Langsamkeit, mit |134| der sie ihren Anfang inszeniert, ist
Herz der Finsternis
eben deshalb zu einer Selbstverständigungsgeschichte der Moderne geworden, weil sie punktgenau ins Schwarze zielt. Die Zwischenrede
eines Wartenden weitet sich zur verstörenden Erzählung einer Zeitenwende.
Der Autor Joseph Conrad wartete mit Anfang vierzig noch immer auf den Durchbruch zu echtem schriftstellerischen Erfolg. Zum
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