Herz der Finsternis
sich – schloß sich. Ich stand auf.
Sie trat herein, ganz in Schwarz, mit blassem Kopf, und schien durch die Dämmerung auf mich zuzuschweben. Sie trug Trauer.
Mehr als ein Jahr war seit seinem Tod vergangen, mehr als ein Jahr, seit sie die Nachricht erhalten hatte; doch sie wirkte,
als würde sie sein Andenken und ihre Trauer für immer bewahren. Sie umfaßte meine Hände und murmelte: ›Ich hörte, daß Sie
kommen würden.‹ Mir fiel auf, daß sie nicht mehr ganz jung war – nicht mädchenhaft, meine ich. In der Kraft ihrer Treue, ihres
Glaubens, ihres Leidens war Reife. Jetzt wirkte der Raum noch dunkler, als hätte das traurige Licht des trüben Abends Zuflucht
auf ihrer Stirn genommen. Ihr helles Haar, das blasse Gesicht, die klare Braue schienen von einem aschfahlen Heiligenschein
umrahmt, aus dem sie mich mit dunklen Augen ansah. Ihr Blick war arglos, tief, zuversichtlich und vertrauensvoll. Sie trug
den kummervollen Kopf erhoben, so als wäre sie stolz auf ihren Kummer, als wollte sie sagen: ich – ich allein weiß um ihn
zu trauern, wie er es verdient. Doch während wir uns noch die Hand schüttelten, trat ein Ausdruck furchtbarer Trostlosigkeit
in ihr Gesicht, und mir wurde klar, daß sie eins jener Wesen war, welche sich nicht zum Spielzeug der Zeit machen lassen.
Für sie war er erst gestern gestorben. Und, bei Gott, der Eindruck war so stark, daß er plötzlich auch für mich erst gestern
gestorben zu sein schien – nein, jetzt gerade, in dieser Minute. Ich sah sie und ihn in der gleichen Sekunde – seinen Tod
und ihren Kummer – ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr das? Ich sah sie beide – ich hörte sie beide. Mit
einem tiefen Seufzer hatte sie gesagt: ›Ich habe überlebt‹ – und meine angespannten Ohren schienen, vermischt mit ihrem verzweifelten
Bedauern, deutlich das geflüsterte Urteil seiner ewigen Verdammung zu hören. Ich fragte mich, mit einem Anflug von Panik im
Herzen, was ich dort zu |127| suchen hätte, als wäre ich an einen Ort grausamer, absurder Geheimnisse geraten, der nicht für menschliche Augen bestimmt
war. Sie bedeutete mir, in einem Sessel Platz zu nehmen. Wir setzten uns. Sachte legte ich das Bündel auf den kleinen Tisch,
und sie legte die Hand darauf ... ›Sie kannten ihn gut‹, murmelte sie nach einem Moment trauernden Schweigens.
›Dort draußen wächst Vertrautheit schnell‹, sagte ich. ›Ich kannte ihn so gut, wie ein Mann einen anderen kennen kann.‹
›Und Sie bewunderten ihn!‹ sagte sie. ›Es war unmöglich, ihn zu kennen und nicht zu bewundern. Nicht wahr?‹
›Er war ein bemerkenswerter Mann‹, antwortete ich unsicher. Dann, unter der flehenden Festigkeit ihres Blicks, der auf mehr
Worte von meinen Lippen zu warten schien, fuhr ich fort: ›Es war unmöglich, ihn nicht zu ... ‹
›Lieben‹, beendete sie denn Satz eifrig und ließ mich entsetzt verstummen. ›Wie wahr! Wie wahr! Aber bedenken Sie, niemand
kannte ihn so gut wie ich! Ich hatte sein ganzes edles Vertrauen. Ich kannte ihn am besten.‹
›Sie kannten ihn am besten‹, wiederholte ich. Und vielleicht stimmte es. Doch mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verfinsterte
sich das Zimmer, und nur ihre Stirn, glatt und weiß, leuchtete weiter im unauslöschlichen Licht des Glaubens und der Liebe.
›Sie waren sein Freund‹, fuhr sie fort. ›Sein Freund‹, wiederholte sie ein wenig lauter. ›Das müssen Sie gewesen sein, wenn
er Ihnen dies gab und Sie zu mir schickte! Ich kann frei zu Ihnen sprechen, ich spüre es – und, ach, ich muß sprechen. Ich
will, daß Sie – Sie, der Sie seine letzten Worte gehört haben – wissen, daß ich seiner würdig war ... . Es ist nicht Stolz ... Doch! Ich bin stolz darauf, zu wissen, daß ich ihn besser verstand als jeder andere auf der Welt – er hat es mir selbst
gesagt. Und seit seine Mutter tot ist, habe ich niemanden – niemanden – mit dem ich ... ‹
|128| Ich hörte ihr zu. Die Finsternis wurde tiefer. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mir das richtige Bündel gegeben hatte.
Vielmehr vermute ich, er wollte, daß ich mich um einen anderen Stoß seiner Papiere kümmerte, den nach seinem Tod der Manager
unter der Lampe untersuchte, wie ich beobachtet hatte. Und das Mädchen redete, linderte seinen Schmerz in der Gewißheit meines
Mitgefühls, es redete, wie ein durstiger Mensch trinkt. Ich hatte gehört, daß ihre Familie die Verlobung
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