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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Ich weiß, sogar das Tageslicht kann lügen, dennoch hatte ich das Gefühl, daß weder
     Licht noch Pose den zarten Glanz der Wahrhaftigkeit auf diese Züge hätte herbeimanipulieren können. Sie schien ohne geistigen
     Vorbehalt zum Zuhören bereit, ohne Argwohn, ohne einen Gedanken an sich selbst. Ich beschloß, zu ihr zu gehen und ihr das
     Portrait und die Briefe selbst zurückzugeben |124| . Neugier. Ja. Und vielleicht noch ein anderes Gefühl. Alles, was zu Kurtz gehörte, war durch meine Hände gegangen: seine
     Seele, sein Körper, seine Station, seine Pläne, sein Elfenbein, seine Karriere. Jetzt blieben nur noch sein Andenken und seine
     Verlobte – und nun wollte ich wohl auch diese beiden irgendwie in die Vergangenheit entlassen – wollte alles, was noch von
     ihm bei mir verblieben war, persönlich der Vergessenheit übergeben, die das letzte Wort in unser aller Schicksal hat. Ich
     rechtfertige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich wirklich wollte. Vielleicht trieb mich eine unbewußte
     Loyalität oder es war die Erfüllung einer jener ironischen Notwendigkeiten, die in den Gegebenheiten der menschlichen Existenz
     lauern. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Doch ich ging.
    Ich dachte, die Erinnerung an ihn wäre wie die Erinnerung an die Toten, die im Leben eines jeden Menschen zusammenkommen –
     der vage Abdruck im Gehirn von Schatten, die während ihrer letzten, schnellen Reise darauf gefallen waren   –, doch vor dem großen schweren Tor zwischen den hohen Häusern einer Straße, die so still und akkurat wirkte wie eine gepflegte
     Friedhofsallee, hatte ich plötzlich eine Vision von ihm auf der Trage, wie er gefräßig den Mund aufriß, als wollte er die
     ganze Erde mitsamt der ganzen Menschheit verschlingen. In diesem Moment war er für mich lebendig, so lebendig, wie er es je
     gewesen war – ein Schatten, der unersättlich nach schönem Schein, nach grausigen Wirklichkeiten hungerte, ein Schatten finsterer
     als jeder Nachtschatten, und edel gekleidet in den Falten einer prächtigen Eloquenz. Die Vision schien mit mir das Haus zu
     betreten – die Trage, die schemenhaften Träger, die wilde Menge unterwürfiger Anbeter, das Dunkel des Urwalds, das Glitzern
     des Flusses zwischen den düsteren Biegungen, das Schlagen der Trommeln, regelmäßig und dumpf wie das Schlagen eines Herzens
     – das Herz einer siegreichen |125| Finsternis. Es war ein Augenblick des Triumphs für die Wildnis, ein plötzlicher, rachsüchtiger Vorstoß, den ich, schien es
     mir, schon um der Rettung einer weiteren Seele willen aufhalten mußte. Und die Erinnerung daran, was ich aus seinem Mund gehört
     hatte, weit weg von hier, als sich hinter meinem Rücken im geduldigen Wald gehörnte Gestalten im Feuerschein bewegten, diese
     gebrochenen Sätze kamen jetzt zu mir zurück, in ihrer unheilvollen, furchterregenden Schlichtheit. Ich erinnerte mich an sein
     rückhaltloses Flehen, seine rückhaltlosen Drohungen, an das ungeheure Ausmaß seiner schändlichen Lüste, an die Niedertracht,
     die Höllenqualen, das rasende Leiden seiner Seele. Und dann schien ich ihn wieder in seinem gefaßten, kraftlosen Zustand zu
     sehen, als er eines Tages sagte: ›Das Elfenbein gehört wirklich mir. Die Firma hat es nicht bezahlt. Ich habe es selbst zusammengetragen,
     unter größtem persönlichen Risiko. Doch ich fürchte, sie beanspruchen es für sich. Hm. Schwieriger Fall. Was, meinen Sie,
     sollte ich tun – Widerstand leisten? Eh? Ich möchte nichts weiter als Gerechtigkeit.‹   ... Er wollte nichts weiter als Gerechtigkeit – nichts weiter als Gerechtigkeit! Ich läutete die Glocke an einer Mahagonitür
     im ersten Stock, und während ich wartete, schien er mich durch die Türscheibe anzustarren – mich mit diesem umfassenden, gewaltigen
     Blick anzustarren, der das ganze Weltall erfaßte, verdammte, verachtete. Ich meinte, seinen geflüsterten Schrei zu hören:
     ›Das Grauen! Das Grauen!‹
    Die Dämmerung brach herein. Ich mußte in einem vornehmen Salon mit drei hohen Fenstern warten, die vom Boden bis zur Decke
     reichten wie drei leuchtende verhüllte Säulen. Die vergoldeten Lehnen und Beine der Möbel schimmerten in undeutlichen Kurven.
     Der hohe Marmorkamin strahlte kalte, monumentale Weiße aus. In einer Ecke stand ein schwerer Flügel, dunkler Glanz spiegelte
     sich auf seinen glatten Oberflächen |126| wie auf einem dunklen, polierten Sarkophag. Eine hohe Tür öffnete

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