HERZ HINTER DORNEN
Zartheit einer Blüte besaß, die ein Frühlingssturm vom Baum reißen und davon tragen konnte. Ihre zierliche Gestalt war zu zerbrechlich für den unabhängigen Geist, den sie beherbergte. Sie benötigte einen Menschen an ihrer Seite, der sie vor den Folgen ihrer impulsiven Taten schützte.
Auch er hatte sich von dieser vermeintlichen Stärke zuerst täuschen lassen. Er hatte nicht erkannt, dass ihre ungewöhnlichen Taten und ihre Sensibilität aus der Lauterkeit eines überwältigend reinen Herzens rührten. Roselynne de Cambremer war etwas ganz Besonderes. Aber machte man dem Edelstein seine tiefe Reinheit zum Vorwurf? Der Rose ihren verlockenden Duft? Sie konnte nicht anders sein, als sie sich gab, und genau das verlockte Schurken wie Robert Duncan oder ihn selbst dazu, dieses Kleinod zu erobern und es im Kampf um seinen Besitz zu verletzen.
Ein schmerzvolles Stöhnen entrang sich seiner Brust. Er hatte eine Kostbarkeit besessen und fortgeworfen, weil er sie in seiner Einfältigkeit für beschmutzt gehalten hatte. Er verdiente nichts Besseres als das Elend des machtlosen, reuigen Zuschauers.
Einmal mehr versuchte er sich vorzustellen, in welchen Räumen sie wohl lebte. Nahe der alten Nobeldame, deren verglaste Fenster auf den Fluss hinaus zeigten und den Blick über das Wasser in die Ferne erlaubten? Oder in den prächtig ausgestatteten Zimmern zur Straßenfront, die einen am Leben der Stadt teilnehmen ließen? Er malte sich die gepolsterten Taburetts aus, die hübsch geschnitzten Flolzpaneele und das polierte Silberzeug in den Schauschränken. Ein würdiger Rahmen für die schönste Fee des Königreichs.
Dort oben im ersten Stock sah er die Lichter, die eines nach dem anderen entzündet wurden, mächtige Wachsstöcke in schmiedeeisernen Halterungen und duftende Bienenwachskerzen. Immer heller wurde es hinter den milchigen Glas- und Ölpapierquadraten der Fenster, als ob man ein Fest feiern würde. Aber mit Ausnahme des Lords waren keine Gäste eingetroffen. Galt die ganze Aufregung ausschließlich dem Senior der Familie?
Mit jeder Kerze, die nun auch hinter den Fenstern des Erdgeschosses entzündet wurde, wuchs das seltsame Gefühl in Justin d'Amonceux, dass hinter den Mauern dieses Hauses nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er hörte eine Tür heftig zufallen, aufgeregte Stimmen aus dem Innenhof. Wie von selbst setzte er sich in Bewegung und trat unter den Torbogen, den er so oft durchschritten hatte.
An der Flussseite eilten Schritte über die Galerie im ersten Stock, eine Männerstimme fragte etwas und eine Frau gab unwirsch Antwort, ohne dass er die Worte verstehen konnte. Die schwüle Atmosphäre. des drohenden Gewitters trug zu der gefährlichen Anspannung bei, und der Schweiß, der ihm unter dem Wams den Rücken herablief, gefror schlagartig zu kühlem Eis. Was geschah dort? Alle seine alarmierten Sinne sagten ihm, dass es um Roselynne gehen musste. Dass nur sie diesen geordneten Haushalt so jäh ins Chaos stürzen konnte.
Ein Hausknecht eilte an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er rannte mit klappernden Holzsohlen die Gasse hinunter. Offensichtlich von einem Auftrag losgejagt wie ein Pfeil von einer straff gespannten Sehne. Den nächsten Lakai konnte er glücklicherweise am Arm festhalten, ehe er verschwand.
»Was ist passiert? Wo läufst du hin?«
Der Mann war viel zu beunruhigt, um sich zu fragen, weshalb ein Fremder solch neugierige Erkundigungen einholte.
»Die junge Gräfin«, stammelte er und riss sich los. »Es geht ihr nicht gut. Ich muss mich beeilen. Sie braucht einen Medicus, der die Wehmutter unterstützt. Die Herrin hat gesagt, auch einen Priester, für den schlimmsten Fall. Lasst mich, die Zeit drängt...«
Ein Medicus? Eine Wehmutter? Ein Priester? Gütiger Himmel, was geschah mit Roselynne? In seiner Sorge achtete der Ritter nicht darauf, dass er plötzlich im vollen Schein der Fackel neben dem Tor stand.
»d'Amonceux, seid Ihr das?«
»Aylesbury!«
»Ich frage mich, wieso ich nicht überrascht bin, Euch hier zu finden.« Ryan of Hythe versuchte sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
»Ihr wusstet, dass ich noch in der Stadt bin?«
»Haltet Ihr mich für einen Dummkopf, der seine Feinde aus den Augen verliert?«
Justin ersparte es sich, den >Feind< zu kommentieren, wenngleich es ein Irrtum war. Er konnte verstehen, warum der Baron ihn so bezeichnete. Doch im Augenblick bedrängte ihn nur eine Frage.
»Was ist mit Roselynne?«
»Wieso nehmt Ihr an, dass
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